Hilft Achtsamkeit in der Sozialen Arbeit?

Achtsamkeit und Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) haben in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit in der Behandlung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen erhalten, auch in der Sozialen Arbeit.

Für die konkrete Anwendung von Achtsamkeit in der Sozialen Arbeit bieten sich verschiedene Möglichkeiten. Sozialarbeiter*innen können zunächst eine eigene regelmäßige Achtsamkeitspraxis entwickeln, um eine achtsame Grundhaltung in ihren Arbeitsalltag zu integrieren. Dies kann durch kurze, in den Arbeitsalltag eingebaute Übungen geschehen, wie bewusstes Atmen zwischen Terminen oder achtsames Gehen auf dem Weg zu Klient*innen. Solche Praktiken können helfen, Stress zu reduzieren und die volle Aufmerksamkeit auf die gegenwärtige Aufgabe zu richten, was besonders in den oft turbulenten und fordernden Arbeitssituationen der Sozialen Arbeit hilfreich sein kann.

Darüber hinaus können Achtsamkeitsübungen auch in die direkte Arbeit mit Klient*innen einbezogen werden. Hierbei ist es wichtig, die Übungen an die spezifischen Bedürfnisse und Fähigkeiten der jeweiligen Zielgruppe anzupassen. Für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen können beispielsweise kürzere, stark strukturierte Übungen sinnvoll sein. Auch die Einbeziehung von Elementen der Psychoedukation kann hilfreich sein, um den Klient*innen ein besseres Verständnis für ihre Situation zu vermitteln und Gefühle der Hilflosigkeit zu reduzieren. Achtsamkeits-Aktivitäten mit Klient*innen sollten unbedingt mit den behandelnden Ärzt*innen und Psycholog*innen abgestimmt werden.

Schließlich kann Achtsamkeit auch auf organisatorischer Ebene in die Soziale Arbeit integriert werden. Dies kann die Einführung von Achtsamkeitstrainings für Mitarbeiter*innen umfassen, die Schaffung von Räumen für Achtsamkeitsübungen am Arbeitsplatz oder die Integration von Achtsamkeitsprinzipien in Teambesprechungen und Supervisionen. Solche Maßnahmen können dazu beitragen, ein Arbeitsklima zu schaffen, das die psychische Gesundheit und Resilienz der Fachkräfte fördert und somit auch die Qualität der Arbeit mit den Klient*innen verbessert . Dabei ist es wichtig, dass die Implementierung von Achtsamkeit nicht als zusätzliche Belastung wahrgenommen wird, sondern als unterstützende Ressource zur Bewältigung der beruflichen Herausforderungen.

Was ist “Achtsamkeit” überhaupt?

Achtsamkeit bedeutet, dass man ganz bewusst auf den jetzigen Moment achtet. Man konzentriert sich darauf, was gerade passiert, ohne es zu bewerten. Das heißt:

  • Man beobachtet seine Gedanken und Gefühle, ohne sie zu ändern.

  • Man nimmt wahr, was man sieht, hört oder fühlt, ohne es gut oder schlecht zu finden.

  • Man versucht, im Hier und Jetzt zu bleiben, statt an die Vergangenheit oder Zukunft zu denken.

Achtsamkeit kann man üben, zum Beispiel durch:

  • Ruhiges Atmen und darauf achten, wie sich der Atem anfühlt.

  • Langsames Essen und dabei jeden Bissen bewusst schmecken

  • Spazieren gehen und dabei die Umgebung genau wahrnehmen

Wenn man Achtsamkeit regelmäßig übt, kann das helfen, weniger Stress zu haben und sich besser zu fühlen.

Wirksamkeit bei schweren psychischen Erkrankungen

Studien zeigen, dass achtsamkeitsbasierte Interventionen bei schweren psychischen Erkrankungen zu einer Verbesserung der Symptomatik, der Lebensqualität und der sozialen Funktionsfähigkeit beitragen können. Eine Metaanalyse von Khoury et al. (2013) fand moderate Effekte von Achtsamkeitsinterventionen bei Psychosen auf negative Symptome, Depressivität und Angst sowie auf die Rehospitalisierungsrate.

Die Psychologin Lyn Ellett von der University of Southampton fasste zehn Studien aus den Jahren 2013 bis 2023 zusammen, die die Wirksamkeit von Achtsamkeit bei psychotischen Patienten untersuchten. Die vermeintlich sanfte Therapieform reduzierte in den allermeisten betrachteten Metaanalysen den Schweregrad psychotischer Symptome und half auch gegen die so genannten Negativsymptome.

Chancen der Achtsamkeit

Für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen können achtsamkeitsbasierte Ansätze mehrere Vorteile bieten:

  1. Verbesserte Emotionsregulation

  2. Besseres Symptommanagement

  3. Verbesserte Körperwahrnehmung und Entspannung

  4. Frühwarnsystem für Verschlechterungen

  5. Stressreduktion

Zudem zeigen Achtsamkeitsinterventionen eine Erhöhung der Lebenszufriedenheit, eine Reduzierung von Stresserleben und positive Ergebnisse mit Blick auf stressbedingte Gesundheitsfaktoren.

Risiken und Kontraindikationen

Trotz der vielversprechenden Ergebnisse gibt es auch Risiken und Kontraindikationen, die beachtet werden müssen:

  1. Symptomverstärkung: Intensive Achtsamkeitsübungen können bei manchen Menschen mit Psychosen zu einer Verstärkung von Symptomen wie Halluzinationen oder Depersonalisation führen.

  2. Traumaaktivierung: Es besteht die Möglichkeit, dass traumatische Erinnerungen aktiviert werden.

  3. Akute Phasen: Bei akuten psychotischen Episoden oder schweren depressiven Phasen sind Achtsamkeitsübungen meist nicht geeignet.

Spezielle Achtsamkeitsprogramme

Um diesen Herausforderungen zu begegnen, wurden spezielle Achtsamkeitsprogramme für Menschen mit Psychosen entwickelt. Ein Beispiel dafür ist das SENSE-Programm von Böge und Hahn, das in ihrem Buch "Achtsamkeit bei psychotischen Störungen" vorgestellt wird.

MBSR ist wohl das bekannteste Achtsamkeitsprogramm: ein strukturiertes 8-Wochen-Programm, das verschiedene Achtsamkeitsübungen wie Meditation, Body Scan und achtsame Bewegung kombiniert. Es wurde in den 1970er Jahren von Jon Kabat-Zinn entwickelt und wird weltweit im Gesundheitsbereich, in pädagogischen und sozialen Einrichtungen sowie in Unternehmen erfolgreich angewendet. Für viele Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen ist die Teilnahme an MBSR im Umfang und der Intensität zu herausfordernd.

Wichtig ist, dass Achtsamkeitsinterventionen bei schweren psychischen Erkrankungen nur unter fachkundiger Anleitung und im Rahmen eines umfassenden Behandlungskonzepts durchgeführt werden sollten. Eine sorgfältige Indikationsstellung und individuelle Anpassung der Übungen sind unerlässlich.

Ausblick

Trotz der vielversprechenden Ergebnisse besteht weiterhin Forschungsbedarf. Zukünftige Studien sollten sich auf Langzeitwirkungen, optimale Programmdauer, spezifische Wirkkomponenten, Vergleichsstudien und kulturelle Anpassungen konzentrieren.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Achtsamkeit und MBSR für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen sowohl Chancen als auch Risiken bergen. Bei sachgerechter Anwendung und Anpassung an die spezifischen Bedürfnisse dieser Patientengruppe können sie eine wertvolle Ergänzung zu etablierten Behandlungsansätzen darstellen.

Kurse

Der MBSR-Verband Deutschland bietet eine umfassende Kurssuche für zertifizierte MBSR-Kurse (Mindfulness-Based Stress Reduction) an. Interessierte können nach Region, Kursformat (Präsenz/Online) und weiteren Kriterien filtern.

Kurssuche:
https://www.mbsr-verband.de/kurse/

Der Palouse Mindfulness MBSR Online-Kurs ist ein hervorragender kostenloser, selbstgeführter 8-Wochen-Kurs basierend auf Jon Kabat-Zinns MBSR-Programm.Er bietet umfassende Achtsamkeitsübungen durch Videos, Lesematerialien und Meditationen. Der Kurs ist komplett online und im eigenen Tempo absolvierbar. Ein Nachteil ist, dass er nur auf Englisch verfügbar ist.

Bester Online-Kurs, kostenfrei (und leider nicht auf Deutsch):
https://palousemindfulness.com/

Literatur

Böge, K. & Hahn, E. (2021). Achtsamkeit bei psychotischen Störungen: Gruppentherapiemanual für die stationäre und ambulante Behandlung SENSE. Beltz.

Dittberner, G. (2021). Achtsamkeit und Stressbewältigung in der Sozialen Arbeit. Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg.

Galuska, L. & Galuska, B. (2011). Achtsamkeit in der Praxis. Beltz.

Hammer, M. (2021). Die Entdeckung der Achtsamkeit: in der Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen. Psychiatrie Verlag.

Kabat-Zinn, J. (1999). Der Weg zur Achtsamkeit: Mindfulness für Anfänger. Gütersloher Verlag.

Khoury, B., Lecomte, T., Flore, J., et al. (2013). Mindfulness-Based Therapy: A Comprehensive Guide. Springer.

Lützenkirchen, A. (2004). Achtsamkeit in der Sozialen Arbeit. Hochschule Fulda.

Michalak, J., Heidenreich, T. & Williams, J. M. G. (2012). Achtsamkeit. Hogrefe.

Pluntke, E. (2021). Achtsamkeit als Ressource in der Sozialen Arbeit. Hochschule Neubrandenburg.

Zarbock, G., Ammann, A. & Ringer, S. (2019). Achtsamkeit für Psychotherapeuten und Berater: Mit Online-Materialien. Beltz.



konsent.berlin, teilweise unter Verwendung von Perplexity AI

Dieser Text wurde teilweise unter Verwendung von Perplexity AI erstellt, fachlich geprüft und überarbeitet.

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