Gemeinschaft
Welche Impulse kann das Camphill-Modell für die Behindertenhilfe geben?
Es gibt wenige Einrichtungen in der Behindertenhilfe, die sich als egalitär-inklusive Gemeinschaften verstehen, also nicht nur Teilhabe fördernd („inklusiv“), sondern in weitgehender Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Behinderungen („egalitär“). Vor allem zu nennen wären da die Gemeinschaften der Camphill-Bewegung mit Ursprung in Großbritannien seit Ende der 30er Jahre sowie die der Arche-Bewegung mit Ursprung in Frankreich seit den 60er Jahren, beides für sich einzigartige und sehr unterschiedliche weltweite Bewegungen, die sich nicht nur bis heute gehalten haben, sondern sich weiterhin im Wachstum befinden (vgl. Heinrichsmeier 2000: 37 ff.). Heinrichsmeier. (2000: 37) stellt fest, dass man sich „(d)as Leben in einer solchen Lebensgemeinschaft (…) als Außenstehender nur schwer vorstellen (kann). Es ist eine völlig andere Lebensform mit einer eigenen Dynamik, eigenen Regeln, schönen und schwierigen Seiten.“ Beide Gemeinschaften durfte ich als Mitarbeiter intensiv kennen lernen. Bei aller Ähnlichkeit ist die Funktionsweise beider jedoch grundlegend unterschiedlich. Eine dieser beiden möchte ich in dieser Arbeit genauer vorstellen, und zwar Camphill.
Dabei greife ich weitgehend auf Publikationen zurück, auch wenn es aus meiner Erfahrung als mehrjähriger Mitarbeiter und Gemeinschaftsmitglied von Camphill Mournge Grange in Nordirland sicher einige Anekdoten und eigene Erfahrungen zu erzählen gäbe. Ich versuche, in einer schier überwältigenden Komplexität, die mir in meiner Recherche begegnete, ein paar verallgemeinerbare Grundlinien herauszuarbeiten: Nach einer historischen Zusammenfassung der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte ordne ich Camphill in die historisch miteinander verwobenen Handlungsfelder der Behindertenhilfe und Psychiatrie im Vereinigten Königreich ein und stelle die Camphill-Bewegung kurz in ihrer vielschichtigen und teilweise in sich widersprüchlichen Ideengeschichte dar. In Bezug auf die Themen der Sozialen Arbeit soll der Blick zunächst auf die Arbeitsweise einer Camphill-Gemeinschaft fallen, und zwar auf Aufgabenstellungen, Organisationen / Strukturen und Ansätze / Methoden, um dann kurz auf die besondere Rolle der Klient*innen einzugehen. Der letzte, etwas ausführlicher betrachtete Punkt, ist die in dieser Form einzigartige Rolle der Betreuer*innen und Fachkräfte, vor allem in ihrer Funktion als idealerweise gleichberechtigte Gemeinschaftsmitglieder und als Mitbewohner*innen in inklusiven Wohn- und Hausgemeinschaften.
Die Fragestellung, der ich in dieser Arbeit nachgehen möchte, ist die der Impulse, die Camphill der Betreuung von Menschen mit Unterstützungsbedarf, egal ob in Behindertenhilfe und Psychiatrie, geben kann. In dieser Frage möchte ich mein Hauptaugenmerk auf die besondere Rolle der Fachkräfte bzw. Betreuer*innen in Camphill richten und indirekt somit auch meine Jahre als Mitarbeiter von Camphill und Arche aus wissenschaftlicher Perspektive beleuchten.
Camphill im historischen und gesellschaftlichen Kontext
In etwa 120 Camphill-Dorfgemeinschaften weltweit leben und arbeiten Menschen mit und ohne Behinderungen Seite an Seite (vgl. McKanan 2020: 6). In diesen „eng gestrickten ländlichen Gemeinschaften (…) sprechen sich alle beim Vornamen an und Exzentrizitäten sind nicht nur willkommen, sondern werden gefeiert“ (Christie in Lyons 2015: 27, übers. v. J.R.). Zurückblickend auf eine inzwischen mehr als 80-jährige Geschichte kann man Camphill als eine „Mehrgenerationen-Bewegung“ (McKanan 2020: 25) beschreiben, in der von Kindern bis zu Senioren jede Altersgruppe vertreten ist. Die Camphill-Dörfer bestehen aus Wohnhäusern, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen, Familien mit Kindern, Freiwillige und manchmal auch Rentner*innen gemeinsam leben. In den Hausgemeinschaften leben selten mehr als 10 oder 12 Bewohner*innen. Ein wichtiger Aspekt der Dörfer sind auch Gärten, Bauernhöfe, Werkstätten und Gemeinschaftsräume für Kulturveranstaltungen und religiöse Aktivitäten wie Gottesdienste und Studiengruppen. Die Gebäude sind häufig in anthroposophischer Architektur gebaut, wirken fantasievoll und farbig (vgl. McKanan 2020: 1). Den gemeinschaftlichen und inklusiven Charakter der Gemeinschaften beschreibt McKanan sehr treffend und nimmt in wenigen Worten eine gesellschaftliche Einordnung vor:
„Camphiller, von denen viele durch eine Gesellschaft, die dazu neigt, Menschen nach Fähigkeiten einzustufen, als entwicklungsmäßig zurückgeblieben und geistig behindert eingestuft werden, sind Experten in den Künsten, ein gastfreundliches Zuhause zu gestalten. Sie haben Gemeinschaften geschaffen, die ästhetisch, sinngebend und rhythmisch sind, weil sie entdeckt haben, dass diese Eigenschaften Menschen mit jeder Art von Fähigkeit helfen, sich zu Hause zu fühlen. Anstatt spezielle Wohnformen anzubieten, um Menschen mit Behinderungen die Teilhabe an einer Gesellschaft zu ermöglichen, die nicht für sie geschaffen wurde, baut Camphill einen ganzheitlichen Lebensstil um ihre besonderen Gaben und Bedürfnisse auf und lädt dann die sogenannten Nichtbehinderten ein, sich daran anzupassen.“ (McKanan 2020: 2, übers. v. J.R.)
In diesem Kapitel möchte ich einen kurzen Blick auf die Entstehungsgeschichte Camphills Ende der 30er Jahre und die Entwicklung der in den Folgejahren entstandenen Bewegung bis heute werfen, um dann die spezifischen Charakteristiken Camphills in den weiteren Diskurs der Behindertenhilfe im Vereinigten Königreich einzuordnen. Das Kapitel schließt mit einer kurzen Ideengeschichtlichen Einordnung, die aufgrund der ideologischen Prägung von Camphill wichtig für ein Gesamtverständnis ist.
Entstehungsgeschichte bis in die Gegenwart
Am Anfang der Geschichte der Camphill-Bewegung steht ein Internat für Kinder mit Lern- und Köperbehinderungen, in dem die Kinder eine für ihre Zeit nicht übliche Lebensqualität erfahren konnten: So wurden sie nicht nur therapeutisch und medizinisch versorgt, sondern konnten handwerkliche und hauswirtschaftliche Fertigkeiten lernen, in der Landwirtschaft und in Werkstätten arbeiten und an kulturellen, künstlerischen und religiösen Aktivitäten teilnehmen. (vgl. Lyons 2015: 15). Dieses Internat wurde von Flüchtlingen des Naziregimes um den österreichischen Arzt Dr. Karl König und dessen Frau Tilla im Jahr 1939 in der Nähe von Aberdeen in Schottland gegründet und zog im Folgejahr in ein nahegelegenes Anwesen namens „Camphill“ (vgl McKanan 2020: 12 und 27). Unterstützt wurden sie dabei, sowie auch in den Folgejahren, durch wohlhabende Familien und waren dadurch von Anbeginn in ein größeres soziales Netzwerk eingebunden (vgl. McKanan 2020: 10).
Im Umfeld des Camphill-Anwesens entstanden in den 40er und 50er Jahren neue Projekte für Kinder mit ohne Behinderungen, 1953 wurde dann die erste Camphill-Gemeinschaft in Nordirland gegründet. (vgl. McKanan 2020: 12). Eine weitere Entwicklung fand statt, als 1955 im englischen Botton eine Gemeinschaft für Erwachsene mit und ohne Behinderungen gegründet wurde. Eine bunte Menge von Idealisten und Hippies schloss sich dem ungewöhnlichen Gemeinschaftsprojekt an (vgl. McKanan: 10). Neben dem Aspekt des „Lifesharing“, also dem Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen, waren die Camphill-Gemeinschaften jener Zeit, und teilweise auch noch bis heute, geprägt von „Incomesharing“: Die Bewohner*innen ohne Behinderungen arbeiteten gewissermaßen auf freiwilliger Basis als Gemeinschaftsmitglieder, nicht als Angestellte. (vgl. McKanan: 11).
Heute gibt es weltweit 120 Camphill-Gemeinschaften (McKanan 2020: 6). Alleine das Vereinigte Königriech zählt über 40 Gemeinschaften, die diverser in ihrer Gestaltung kaum sein könnten. Sie unterscheiden sich in Größe, organisatorischer wie ideologischer Ausgestaltung. Die meisten sind in ländlichen Regionen angesiedelt, manche integrieren sich in das Stadtleben (vgl. Lyons 2015: 16).
Die Entwicklungen seit der Jahrtausendwende werden in vielen Camphill-Gemeinschaften als krisenhaft beschreiben: einige kämpfen ums Überleben, andere haben die Camphill-Bewegung verlassen, doch wenige mussten tatsächlich schließen (vgl. McKanan 2020: 195ff.). Symptomatisch für die aktuelle Krise sind Skandale um das englische Botton Village und um das irische Ballytobin. Beide Skandale fanden eine große öffentliche Aufmerksamkeit weit über die Camphill-Bewegung hinaus. Kernpunkt der Auseinandersetzungen zwischen den Gemeinschaftsmitgliedern und dem Management war die zunehmend kritische Bewertung des gleichberechtigten Zusammenlebens und der Einkommensteilung von Menschen mit und ohne Behinderungen durch staatliche Behörden (vgl. McKanan 2020: 13, 99, 132, 199 – 201).
Eine weitere Herausforderung für die Gemeinschaften ist ein immer stärkerer Grad der Behinderung unter den Neuzugängen aufgrund sich ändernder staatlicher Auswahl- und Förderprinzipien. Aus Perspektive der britischen Gesundheitsbehörden wird Camphill als Einrichtung der Behindertenhilfe gewertet, zu der nur Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf Zugang bekommen. In der Folge sind die neueren Gemeinschaftsmitglieder immer weniger in der Lage, tatsächlich und aktiv am Dorfleben der Camphill-Gemeinschaften teilzunehmen, Hand in Hand mit nicht-behinderten Gemeinschaftsmitgliedern in Werkstätten und Haushalten mitzuarbeiten und diese aktiv mitzugestalten. Ganz anders als im egalitären Miteinander in den ersten Jahrzehnten der Camphill-Gemeinschaften entwickelt sich heute eine immer klarer abgrenzende Rollenverteilung von „Betreuten“ und „Betreuer*innen“. Waren traditionelle Camphill-Gemeinschaften noch Vorreiter der Deinstitutionalisierung[1], so haben viele Gemeinschaften heute einen zunehmend institutionellen Charakter (vgl. McKanan 2020: 91 ff.).
Einordnung in den britischen Diskurs der Behindertenhilfe
Menschen mit Behinderungen und schweren psychischen Erkrankungen wurden im Vereinigten Königreich seit dem Asylums Act von 1845 in staatlichen Einrichtungen untergebracht (vgl. Sculls 2021: 306), in denen sie „auf einen schleichenden Tod warten“ (König in McKanan 2020: 175, übers. v. J.R.). König entwickelte die Vision einer Alternative zu diesen Institutionen. Er war überzeugt, dass „sie alle (…) eine Gemeinschaft [verdienten], in der sie leben und entsprechend ihren Fähigkeiten Aufgaben übernehmen könnten“ (ebd.). Damit nimmt er die spätere Debatte um Deinstitutionalisierung vorweg und entwickelt ein einzigartiges Gemeinschaftsmodell als alternative zur institutionellen Unterbringung. In den Begriffen der klassischen Behindertenhilfe und Psychiatrie lässt sich das Phänomen einer egalitär-inklusiven Gemeinschaft schwer kategorisieren (vgl. Lyons 2015:15; McKanan 2020: 4 ff.; Martin 1968: 42 ff.).
Der „Mental Health Act (1959)“ und der „Disability Discrimination Act (1995)“ sind Meilensteine der Deinstitutionalisierung und Gesetzesgrundlage eines Paradigmenwechsels in der Behindertenhilfe: nun sollen Menschen mit Behinderungen vor allem staatliche Unterstützung erhalten, ein ganz „normales“ Leben zu führen: eine eigene Wohnung, Teilnahme am Unterricht der Regelschulen, geförderte Arbeitsplätze in regulären Betrieben, Freizeitgestaltung im Sozialraum der Mehrheitsbevölkerung (vgl. McKanan 2020: 176 f.). Bei aller positiver Bewertung dieses Paradigmenwechsels sprechen Jackson und Irvine von einer „pauschalen Schließung von Anstalten in Ermangelung geeigneter kommunaler Einrichtungen“ (2011: 3, übers. v. J.R.) zugunsten der gemeindenahen Arbeit. Scull argumentiert, dass neoliberale Beweggründe die Ursache dieses Paradigmenwechsel gewesen sei, und dies zu Ungunsten der Betroffenen (2021: 306 ff.). Scull, Lyons und Jackson / Irvine sind sich einig, dass viele Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und Lernbehinderungen im betreuten Einzelwohnen und in kleinen betreuten Wohngemeinschaften sozial isolierter seien als zuvor in geschlossenen Einrichtungen. Den Anforderungen der in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts erstarkenden neoliberalen Gesellschaftsordnung seien sie nicht gewachsen. Sie erlebten, dass ihre Nachbarn sie nicht willkommen heißen, sie weniger Kontakt zu anderen Menschen mit Behinderungen hätten, ihre Betreuer*innen auf einmal ihre einzigen festen Bezugspersonen würden und sie somit im Lebensumfeld eine neue Form der Ausgrenzung und vor allem Vereinsamung erfahren würden (vgl. Scull 2021: 307; Jackson / Irvine 2011: 4; Lyons 2015: 12 ff.). Auch die Integration in den Arbeitsmarkt läuft bei einer Mehrheit weniger erfolgreich als erhofft: Nach einer Studie des Papworth Trust aus dem Jahr 2013 gehen weniger als 20% der Menschen mit Lernbehinderungen arbeiten, viele von ihnen nur in Teilzeit und unterbezahlt (vgl. Lyons 2015: 4). Der neue Imperativ des Personenzentrierten Ansatz gestaltet sich zusätzlich schwierig, als dass es häufig an finanziellen Mitteln fehlt, Ziele von Menschen mit Behinderungen auch nur annähernd nach ihren Vorstellungen umzusetzen (vgl. Lyons 2015: 9). Hendrix bemerkt mit Bezug auf gemeindenahe Wohnformen, dass „auch wir (…) nicht aus der Masse herausstechen [wollen]. Warum unterstellen wir dann, dass sich geistig behinderte Menschen danach sehnen, fern von Ihresgleichen zu leben?“ (in Lyons 2015: 13). In geschlossenen Einrichtungen waren Menschen mit Behinderungen unter sich. Doch, wie McKanan anmerkt, halten solche „Institutionen (…) Behinderungsmuster aufrecht, indem sie Menschen in feste Rollen sperren, insbesondere die Rollen der „Betreuer“ und „Pflegeempfänger“ (2020: 3).
Von außen betrachtet sind Camphill-Gemeinschaften ein Stück weit wie Institutionen der Behindertenhilfe aufgestellt, insbesondere mit Hinblick auf das Zusammenleben von unterstützungsbedürftigen Menschen mit ähnlichen Diagnosen und in räumlicher Nähe zueinander und räumlich abgegrenzt von der Mehrheitsbevölkerung (vgl. Lyons 2015: 25 f.). Doch was man in Camphill-Gemeinschaften nicht finden wird, das sind, wie McKanan es ausdrückt “passive Insassen, deren Individualität von einer Anstalt gestohlen wurde“, stattdessen stößt man auf Menschen, die „einfach zuhause sind“ (2020: 2). Lyons verweist in diesem Zusammenhang auf eine Studie aus dem Jahr 2009, die das Leben in Camphill als „ein Leben voller Aktivität und Freundschaft“ beschreibt, „in dem sich Menschen mit geistigen Behinderungen sicher fühlen und das Gefühl haben, ein nützliches Mitglied einer Gemeinschaft zu sein, die auf ihre Bedürfnisse eingeht“ (Cumel u.a. in Lyons 2015:25). Der Alltag ist abwechslungsreich und ohne Langeweile. In den für sie sicheren Dörfern können Menschen mit Beeinträchtigungen unbegleitet zum Geschäft und zur Arbeit gehen, unterwegs ihre Freunde treffen, haben Zeit für einen kleinen Tratsch hier und da und können das Leben in vollen Zügen genießen. Niemand ist ausgeschlossen, jede*r ist Teil der Gemeinschaft (vgl. Lyons 2015: 30). Man könnte diese Lebensform als einen großen Schritt in Richtung einer „nicht-behindernden Gesellschaft“ (McKanan 2020: 2, übers. v. J.R.) bezeichnen. Camphill scheint also neben Charakterzügen einer Institution vor allem viele Vorteile aufzuzeigen, die man sich aus der gemeindenahen Arbeit erhofft hatte.
Im Diskurs der Deinstitutionalisierungs-Debatte nimmt Camphill also eine ganz eigene Zwischenposition ein. Ein Stück weit erinnern die Dorfgemeinschaften an die alten, in Ungnade gefallenen Institutionen der Behindertenhilfe (vgl. Lyons 2015: 19), und zugleich waren sie gewissermaßen ein Vorläufer der Deinstitutionalisierung mit einer ganz eigenen Antwort, die Sozialbehörden oft schwer nachvollziehbar erscheint: aus einer idealistischen Perspektive wären Camphill-Gemeinschaften überhaupt nicht als Träger der Behindertenhilfe zu verstehen, sondern als intentionale Gemeinschaften, in denen Menschen verschiedenster Fähigkeiten gleichwertig miteinander leben und arbeiten und in denen „alle gemeinsam lernen, was eine nicht-behindernde Gesellschaft sein könnte“ (McKanan 2020: 85, übers. v. J.R.).
Kurze ideengeschichtliche Einordnung
Eine adäquate ideengeschichtlich Einordnung würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, zumal sicher auch Kontroversen debattiert werden müssten. So seien an dieser Stelle nur ein paar für das historische Verständnis von Camphill relevante Eckpunkte genannt: vor allem Rudolf Steiners Lehren, aber auch das Vorbild mährische Siedlungen und die jüdische Tradition.
Vordergründig ist ein enger praktischer und ideologischer Bezug zu den Lehren Rudolf Steiners ersichtlich, vor allem zu der von ihm gegründete Anthroposophie und zur Waldorfpädagogik (vgl. Lyons 2015: 16; McKanan 2020: 26 f.), jedoch auch zu seinen Lehren in den Bereichen Medizin, Heilpädagogik, Landwirtschaft, Architektur und Organisationsstruktur (vgl. McKanan 2020: 9 und 206). Es ist jedoch festzustellen, dass die Mehrzahl der Mitglieder der Camphill-Bewegung keinen oder nur einen geringen Bezug zu den Lehren Rudolf Steiners hat (vgl. McKanan 2020: 8). Zwar spielt in der Geschichte der Bewegung und im Alltag vieler Camphill-Gemeinschaften die von Rudolf Steiner gegründete „Christengemeinschaft“ eine wichtige Rolle (McKanan 2020: 143), doch es sind „Menschen aller und keines Glaubens“ willkommen, wie Lyons (2015: 21, übers. V. J.R.) kurz und bündig feststellt.
Weniger offensichtlich und kaum erforscht sind zwei weitere ideengeschichtliche Einflüsse: Zum einen brachte die Mitgründerin Tilla König das Vorbild mährischer Siedlungen für Menschen mit Behinderungen ein (vgl. McKanan 2020: 10; Lyons 2015: 16). Zum anderen waren viele der Gründer*innen jüdischer Abstammung. Somit hatten nicht zuletzt jüdische Traditionen und Werte einen sichtbaren Einfluss auf die Entstehung und Ausprägung Camphills, vor allem die im Judentum positive Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen (vgl. McKanan 2020: 26 f.; Ellger-Rüttgard 2019: 223)[2].
Die Arbeitsweise einer Camphill-Gemeinschaft
In diesem Kapitel möchte ich zunächst kurz einen Überblick dreier Themen der Sozialen Arbeit in Camphill geben: die Aufgabenstellungen, Organisationen / Strukturen und Ansätze / Methoden. Den Klient*innen und Fachkräften sei im Anschluss ein eigenes Kapitel gewidmet, da ihr Zusammenspiel mehr als alles andere den unverwechselbaren Charakter von Camphill beschreibt.
Aufgabenstellungen
Bei allen lokalen Differenzen in der Ausgestaltung beschreibt die Kurzdefinition der britischen Finanzbehörde den kleinsten gemeinsamen Nenner: „Die Gemeinschaften (…) sind (…) dazu da, gefährdeten Kindern und Erwachsenen, viele von ihnen mit Lernschwierigkeiten, zu unterstützen, mit anderen zu leben, zu lernen und zu arbeiten.“ (HMRC 2013: o.S.). Dabei ist wichtig zu betonen, dass die Menschen mit Unterstützungsbedarf vor allem für eines in einer Camphil Gemeinschaft sind: um zu leben. „Das Leben selbst, in all seiner Komplexität, ist der Zweck und die Aufgabenstellung einer Gemeinschaft, und es ist diese Vielfältigkeit von Zwecken – oder Ganzheitlichkeit – die eine ‚Gemeinschaft‘ von einer ‚Institution‘ unterscheidet. (Lyons 2015: 19, übers. v. J.R.). Ganz anders als in der gemeindenahen Arbeit, in der es das Ziel ist, eine weitgehende Normalität für Menschen mit Lernbehinderungen herzustellen, sehen Camphill-Gemeinschaften ihre Aufgabe wie von Lyons beschrieben darin „(a)nstelle [Menschen mit Unterstützungsbedarf] (…) in existierende Normen zu stecken (…) ihre Andersartigkeit zu feiern und neue Normen zu entwickeln.“ (2015: 6, übers. v. J.R.).
Eine Kernaufgabe ist neben der Alltagsgestaltung in gemeinsamen Haushalten und dem Gemeinschaftsleben auch das Arbeitsleben. Jede Bewohner*in egal welcher Schwere der Behinderung hat mindestens einen tagesfüllenden „Job“, wenn nicht gar mehrere abwechslungsreiche Teilzeit-Jobs: eine Arbeitsstelle in einer der Werkstätten, auf dem Bauernhof, in der Gärtnerei, dem Geschäft, der Wäscherei, Bäckerei oder dem Café. Diese Art der den Fähigkeiten und Interessen angepasste Vollbeschäftigung von Menschen mit Behinderungen trägt ganz besonders zu einer eigenen Identität bei, als „Gärtner“, „Bäcker“ oder „Schreiner“. Die Angebote finden innerhalb der Gemeinschaft statt, sind niedrigschwellig, ohne Zugangsvoraussetzungen oder Leistungsdruck und vor allem sinnstiftend, da die verschiedenen Betriebe im Auftrag der sich selbst versorgenden Gemeinschaft arbeiten: Der Lohn der Gärtnerarbeit landet in Form von Gemüse auf dem eigenen Mittagstisch, das oft lustig geformte Brot aus der Bäckerei wird nicht nur Gesprächsthema, sondern wird vor allem genossen, und alle weinen über das tragische Schicksal der Kuh, die für das leckere Steak am nächsten Grillfest zum Schlächter muss. Ohne diese Arbeitsangebote für Menschen mit Behinderungen würde ein wichtiger Auftrag Camphills fehlen: der als maximal inklusiver Arbeitgeber für Menschen wirklich jedes Fähigkeitsniveaus, vor allem ohne die für eine Mehrheit nicht erreichbaren Hürden zur Aufnahme in reguläre Behindertenwerkstätten oder geförderte Arbeitsplätze (vgl. Lyons 2015: 27).
Organisationen / Strukturen
Jede Camphill-Gemeinschaft hat ihre eigene Organisationsform und Struktur. Manchmal gibt es regional bestimmte Gemeinsamkeiten, bis hin zu einer übergreifenden Körperschaft, die als juristische Person mehrere Gemeinschaften besitzt, diese verwaltet und / oder nach außen vertritt. In der Regel sind diese Körperschaften aufgestellt vergleichbar Körperschaften des öffentlichen Rechts, Stiftungen oder Vereinen und dienen teilweise auch zur Vernetzung der Gemeinschaften untereinander (vgl. McKanan 2020: 6 und Lyons 2015: 21). Nach Angaben der britischen Finanzbehörde werden „(d)er Besitz der Gemeinschaft und alle Einnahmen (…) gebündelt und nach Bedarf zwischen den Mitgliedern geteilt. Jede Gemeinschaft besteht aus einem oder mehreren Häusern, in denen die Mitglieder zusammenleben.“ (HMRC 2013: o.S., übers. v. J.R.). Für diese sehr unkonventionelle Art der Mittelverwaltung hat die Finanzbehörde gar eine eigene Verfahrensanweisung erstellt, die sog. „BIM 22040: Ausnahmen und Alternativen: Mitarbeiter der Camphill Vereinigung“ (HMRC 2013: o.S: übers. v. J.R.), in der die steuerliche Behandlung von Gemeinschaftsmitgliedern und Haushalten im Detail behandelt wird. Dies bezieht sich jedoch vor allem auf den traditionellen Typus der Camphill-Mitarbeiter*innen, die sog. „long term co-workers“, auf die später noch eingegangen wird. Über die Jahrzehnte hat sich da eine Vielzahl unterschiedlicher Praktiken entwickelt, jedoch immer dem Augenmerk, dass „Wirtschafts- und Entscheidungsstrukturen (…) darauf ausgerichtet (sind), die Integrität jedes Menschen zu achten.“ (McKanan 2020: 1). Jedoch auch innerhalb Camphills ist die Beteiligung von Menschen mit Lernbehinderungen an Entscheidungs- und Managementprozessen ein großes Thema und mancherorts wird mehr Inklusion gefordert. Ein demokratisches Organ, das wohl in keiner Camphill-Gemeinschaft fehlt, ist die „Village Assembly“ oder das „Village Meeting“, in der alle Dorfbewohner*innen mit und ohne Behinderungen zusammenkommen, von vergangenen Ereignissen berichten, Probleme benennen, Wünsche äußern und auch demokratisch über einige Belange der Gemeinschaft abstimmen (vgl. McKanan 2020: 93).
Ansätze / Methoden
So vielfältig die Strukturen, so auch die Ansätze und Methoden. In den meisten Camphill-Gemeinschaften sind sicher zumindest einige Methoden der Waldorfpädagogik präsent und prägen den Alltag. Auch für Tanz-, Kunst- und Naturtherapie gibt es Methoden, die auf Rudolf Steiner zurückzuführen sind und gleichermaßen in Waldorfschulen wie auch in Camphill zum Einsatz kommen (vgl. McKanan 2020: 9). Halt gebend für Bewohner*innen sind klar strukturierte täglich Rhythmen sowie ein Jahreskreislauf mit immer wiederkehrenden Festen und Feierlichkeiten[3], viele der Waldorf-Tradition entlehnt, aber auch mit lokalen Traditionen und neu erfunden Bräuchen angereichert, sowie festen, fast monotonen und zugleich identitätsstiftenden Aufgaben und Abläufen, die vor allem die Bewohner*innen mit Beeinträchtigung mit Freude und Stolz ausführen (vgl. Lyons 2015: 23; McKanan 2020: 1 und 83)[4]. Ein weiterer nennenswerter Ansatz, der im folgenden Kapitel auch noch weiter ausgearbeitet wird, ist die Wechselseitigkeit in Beziehungen, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen sich auf Augenhöhe begegnen, mit echtem Interesse aneinander unabhängig von einer professionellen Beziehung (Lyons 2015: 19). Der vielleicht wesentlichste therapeutische Ansatz mit unklar definierter Methodik ist die von Rudolf Steiner entwickelte Heilpädagogik (McKanan 2020: 141). Diese fand in den letzten Jahren verschiedene Aktualisierungen, so zum Beispiel durch Schwartz, der den Begriff der „radikalen Milde“ (2016, o.S., übers. v. J.R.) einführt und auch neuere Ansätze und Methoden integriert, wie zum Beispiel HANDLE nach Judith Bluestone oder Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg (vgl. Schwartz 2016, o.S.).
Klient*innen und Fachkräfte
Die vielleicht wesentlichste Besonderheit von Camphill findet auch im Versuch der britischen Finanzbehörden, die Gemeinschaft steuerrechtlich zu erfassen. Dort heißt es: „Gemeinschaftsmitglieder innerhalb des Camphill-Verbundes sind einander gleichgestellt, unabhängig von ihrer Rolle als Betreute oder Betreuende“ (HMRC 2013, o.S., übers. v. J.R.). Auch McKanan (2020: 81) stellt fest, dass sich Camphillers Rollenbezeichnungen, die Klient*innen und Fachkräfte oder Betreuer*innen und Betreute differenzieren, nicht schätzen[5]. Und es gibt sie doch: die Betreuten nennen sich „villagers“ (auf Deutsch: Dorfbewohner) und die Betreuenden haben eine Reihe an Titeln, die genau untereinander differenziert sind und später im Detail erklärt werden: „long term co-workers“, „short term co-workers“, Angestellte, Freiwillige, Freunde und Familie. Im Folgenden nun ein kurzer Blick auf die Klient*innen und dann ein genauerer Blick auf die Fachkräfte.
Klient*innen als Dorfbewohner*innen
McKanan (2020: 87 f.) erklärt, dass in Camphill Begriffe wie Klient*in oder Patient*in vermieden werden, „um zu verhindern, dass Menschen primär nach klinischer Diagnose definiert werden“ (übers. v. J.R.). In Camphill geht es nur zweitrangig um die Betreuung, Behandlung oder Pflege von unterstützungsbedürftigen Menschen als vielmehr um das gemeinsame Gestalten und Erleben von Gemeinschaft[6]. Die Klient*innen könnte man als die ureigentlichen Gemeinschaftsmitglieder beschreiben. Anders als ihre Betreuer*innen, die oft nur für ein paar Jahre in einer Gemeinschaft bleiben, leben und arbeiten die „villagers“ häufig seit Jahrzehnten tagein und tagaus in ein und derselben Gemeinschaft und haben ein identitätsstiftendes Zugehörigkeitsgefühl sowohl zur Gemeinschaft als auch zu ihren persönlichen Aufgaben dort entwickelt. Somit sind sie die Spezialist*innen der Gemeinschaft, können sich oft minutiös an Ereignisse und Geschichten aus der Vergangenheit erinnern, sind wandelnde Archive von Generationen an Betreuer*innen und verkörpern ihren Stolz, aktiv in dieser Gemeinschaft zu leben und diese mitzugestalten. (vgl. McKanan 2020: 39, 83, 91). Die „villagers“ wurden immer so weit wie möglich auf Augenhöhe wahrgenommen und in die Gemeinschaft einbezogen. Karl König fasst diesen Kernpunkt wie folgt zusammen: “I can’t tell you what you are doing here, (…) I can’t tell you how to do it. All I can tell you is, do it together” (König in McKanan 2020: 38). Dass die Wirklichkeit manchmal komplexer als das Ideal ist, versteht sich von selbst. So gibt es auch eine Debatte zum Thema Ungleichheit: „villagers“ haben aus verschiedensten Gründen nicht den gleichen Zugang zu Entscheidungen und finanziellen Mitteln. Ihre persönliche Unabhängigkeit bleibt bei allen andersartigen Bemühungen immer ein Stück weit eingeschränkt, und auch in Camphill sind sie letztendlich abhängig von denen, die sich um sie kümmern (vgl. McKanan: 134, 189 f.).
Fachkräfte als Gemeinschaftsmitglieder
Im Folgenden nun ein detaillierter Blick auf den weiteren Kreis der Fachkräfte bzw. Betreuer*innen in den für Camphill typischen Ausprägungen.
„Life-sharing co-workers“
Das klassische Berufsbild einer Betreuer*in in Camphill-Gemeinschaften nennt sich „lifesharing co-worker“ (McKanan 2020: 97). „Lifesharing co-workers“ teilen sich ihren Lebensalltag mit Menschen mit Unterstütztungsbedarf, den sog. „Villagers“: sie leben, häufig mit ihren Familien, in inklusiven Wohn- oder Hausgemeinschaften, kochen und essen gemeinsam, gestalten ihre Freizeit miteinander und gestalten das Gemeinschaftsleben, egal ob im Rahmen von Arbeit in Werkstätten oder der Landwirtschaft, oder im Kulturprogramm. Entscheidungen treffen „Co-workers“ und „Villagers“ idealerweise gemeinsam (vgl. McKanan 2020: 97 ff; HMRC 2013: o.S.). „Lifesharing co-workers“ werden nicht durch ein Gehalt vergütet, sondern erhalten „Unterkunft, Nahrungsmittel, Kleidung und andere Ausgaben von der Gemeinschaft“ (HMRC 2013: o.S., übers. v. J.R.)[7]. Unterschieden wird zwischen zwei unterschiedlichen Typen von Co-Worker, die nicht nur unterschiedliche Rollen in der Gemeinschaft spielen, sondern auch steuerrechtlich unterschiedlich behandelt werden: „short term co-workers, and permanent co-workers.“ (HMRC 2013, o.S.). Die „short term co-workers“ sind in der Regel jüngere Freiwillige, die für ein oder zwei Jahre in einer Camphill-Gemeinschaft mitleben und mitarbeiten (vgl. McKanan 2020: 102 f.). Die „long term co-workers“ verpflichten sich für mehr als zwei Jahre, übernehmen verantwortungsvollere Positionen innerhalb der Gemeinschaft und werden in der Regel auch zu einer Fachkraft-Ausbildung verpflichtet (vgl. McKanan 2020: 97 ff.). Die besondere Form der „Lifesharing Co-workers“ wird oft als Idealform der Inklusion von Menschen mit Unterstützungsbedarf angeführt, die anders in dem Maße nicht möglich wäre (vgl. McKanan 2020: 89)
Diskussion des professionellen Selbstverständnisses
Lyons (2015: 19) berichtet, dass Camphill-Co-worker sich ungerne als Betreuer*innen beschreiben und ihre Rolle nicht als „Job“ verstehen, sondern als „way of life“, und McKanan (2020: 99) gibt die Meinung eines Camphill-Co-workers wieder, der erklärt, dass Menschen mit Unterstützungsbedarf nicht als „service recipients“ gesehen werden sollen, sondern dass es vor allem um inklusive Interaktion und Miteinander geht. In Bezug auf die Frage des professionellen Selbstverständnisses können wir vielleicht an die anfänglich gestellte Frage nach dem institutionellen Charakter Camphills anknüpfen:
„Christie (1989) weist darauf hin, dass Camphill-Dörfer insofern Institutionen ähneln, als alle Aktivitäten, einschließlich Arbeit, Spiel, Mahlzeiten und Schlaf, an einem einzigen Ort stattfinden. Gleichzeitig ist es gerade diese Eigenschaft, die sie Institutionen unähnlich macht. In den Dörfern essen sowohl Behinderte als auch Nicht-Behinderte gemeinsam, treffen sich in den gleichen Räumen, schlafen nebeneinander; es gebe „keine Segregation nach „Fähigkeit“ oder „Normalität“ (Christie, 1989; 27). Christie identifiziert diese gemeinsame Nutzung von Aufgaben und Räumen als eine Funktion, die dazu beiträgt, die Unterschiede zwischen Mitarbeitern und Nicht-Mitarbeitern zu minimieren. Am wichtigsten ist, dass die Mitarbeiter im Gegensatz zu herkömmlichen Einrichtungen nicht am Ende des Tages oder am Ende ihrer Schicht „nach Hause gehen“. Mit anderen Worten, sie verlassen den begrenzten geografischen Bereich des Dorfes nicht, weil das Dorf ihre Heimat ist. Ihr Zuhause, ihre Familie, ihr soziales Leben sind alle im Dorf. In diesem Sinne ist es eine Totalität, aber „eine totale Gemeinschaft, keine totale Institution“ (ebd.; 91).“ (Lyons 2015: 25 f., übers. v. J.R.)
Die Frage nach professionellem Selbstverständnis lässt sich aus dieser Perspektive nur schwer fassen: es geht hier nicht um Profession oder Job, sondern um ein egalitäres Miteinander. Damit kann man nicht von einem professionellen Selbstverständnis sprechen, sondern von einer Lebenshaltung oder Weltanschauung. Ein Stück weit fehlen hier die Konzepte, Gemeinschaftsleben im Rahmen der Begriffe der Behindertenhilfe zu beschreiben. Vielleicht kann man mit Heinrichsmeiers (2000: 37), wie in der Einleitung zitiert, etwas hilflos resümieren: „Das Leben in einer solchen Lebensgemeinschaft kann man sich als Außenstehender nur schwer vorstellen. Es ist eine völlig andere Lebensform mit einer eigenen Dynamik (und) eigenen Regeln (…)“. Inwiefern das Selbstverständnis eines von außen schwer vorstellbaren Gemeinschaftslebens ein professionelles Selbstverständnis erweitert, dieses grundlegend positiv transformiert, eine Alternative zum gängigen Selbstverständnis bietet oder mit diesem teilweise oder vollständig nicht vereinbar ist, soll an dieser Stelle offen gehalten bleiben. Wahrscheinlich hat jede einzelne Einschätzung in ihrem jeweiligen Kontext Recht, gegeben eine enorme Unterschiedlichkeit der Praktiken in verschiedenen Camphill-Gemeinschaften. Das professionelle Selbstverständnis muss dann konkret auf einen spezifischen Ort und die lokalen Umstände bezogen werden, um objektiv bewertbar zu werden.
Aktuelle Entwicklungen
Nun ändert sich in Camphill alles, ganz wie im Rest der Welt. Die Gemeinschaften finden es zunehmend schwierig, neue „Lifesharing Co-worker“ zu rekrutieren, immer mehr Positionen werden von regulären Angestellten besetzt, die nicht vor Ort wohnen[8]. Dieser Wandel mag damit zusammenhängen, dass aufgrund von staatlichen Vorgaben und Inspektionen, einer Dokumentationspflicht und gesetzlichen Anforderungen an die fachliche Qualifikation der Mitarbeiter*innen ein Hürde entstanden ist, die das utopische Miteinander als Gemeinschaft schwerer gestaltet. Besondere bauliche Vorschriften, Dokumentationspflicht und staatliche Inspektionen im eigenen inklusiven Zuhause nehmen viel von einem heimischem Wohlgefühl. Eine Entwicklung zu einer klassischen Institution der Behindertenhilfe wird vielerorts befürchtet oder beklagt (vgl. McKanan 2020: 100, 114 f. und 184). So scheint eine neue Form der Gemeinschaft zu entstehen, ganz anders als die „Lifesharing“ Gemeinschaft der Vergangenheit. McKanan (2020: 10) beobachtet eine neue Generation, zu der nicht nur „Lifesharing Co-workers“ und „Villagers“ gehören, sondern auch externe Teilnehmer*innen des Tagesprogramms, angestellte Fachkräfte, Freiwillige, Nachbarn, Eltern und Familienangehörige sowie die häufig ehrenamtlichen Vorstandsmitglieder: sie alle „kreieren gemeinsam die Gemeinschaft“ (McKanan 2020: 10)
Fazit
In dieser Arbeit habe ich versucht, den für Camphill bezeichnenden „Mittelweg zwischen Utopie und Institution“ (McKanan 2020: 17, übers. v. J.R.) auszuloten. Der Komplexität Camphills bin ich aufgrund der Kürze der Arbeit sicher nur ansatzweise gerecht geworden. Doch die Alleinstellungsmerkmale Camphills konnten für die Diskussion in Kürze dargelegt werden:
die Sonderposition Camphills sowohl jenseits institutioneller Betreuung als auch jenseits gemeindenaher Arbeit als ein ureigenes Gemeinschaftsprojekt, in dem eine einzigartige Form der Inklusion und des Zusammenlebens praktiziert wird.
die holistische Organisation von Camphill-Gemeinschaften, in denen alle Aspekte des Lebens einen Platz finden: Wohnen, Arbeiten, soziales, kulturelles und religiöses Leben bis hin zu medizinischer und sozialarbeiterischer Versorgung.
die spezielle Rolle der „Co-worker“, die sogar im britischen Steuerrecht eine Sonderbehandlung finden und vor allem einen partnerschaftlichen und gemeinschaftlichen Anspruch im Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen widerspiegeln.
Camphill kann auf diesen drei Ebenen Impulse für eine neue Idee von „eglitär-inklusiver Gemeinschaft“ geben. Bezeichnenderweise läuft das Camphill-Experiment seit über 80 Jahren, besitzt also bei allen Problemen der Einordnung in Kategorien der Behindertenhilfe eine nachhaltige Stabilität. Eine weitere systematische Erforschung „sowohl von Erfolgen als auch von Niederlagen der Camphill-Gemeinschaft kann in einem weiteren Sinne lehrreich sein.“ (Lyons 2015: 18). Ich schließe mich dabei Lyons an, die auf die demographische Entwicklung unserer Zeit verweist:
„Angesichts der gegenwärtigen Sorge, wie man mit einer wachsenden Zahl an Menschen, die als Unterstützungsbedürftig eingestuft werden, fertig werden soll, angesichts der Schwierigkeiten, die eine alternde Bevölkerung mit sich bringt, angesichts der Bemühungen um ein Gleichgewicht zwischen Menschenrechtsbelangen und dem wachsenden Bedarf an gemeinschaftlichem Zusammenhalt bleibt die (…) [über 80-jährige] Erfahrung von Camphill eine weitgehend ungenutzte Quelle.“ (Lyons 2015: 18, übers. v. J.R.)
Versteht man Camphill als eine mögliche Option für den kreativen Umgang mit demographischen und gesellschaftlichen Herausforderungen in der Behindertenhilfe und darüber hinaus, dann lohnt sich sicher eine genauere Analyse der teilweise utopisch wirkenden Lösungsansätze.
Endnoten
[1] Die Deinstitutionalisierung setzte im Vereinigten Königreich erst in den 60er Jahren an (vgl. Scull 2021: 307)
[2] Für eine weitergehende Diskussion des traditionell von Inklusion, Unterstützung und Empathie geprägten Verhältnisses von Judentum und Behinderungen siehe zum Beispiel Koch, Matan (2014): Judaism and Disability 2 of 4: Ancient Words, Modern Sensibilities: Disability and the Talmud. http://www.matankoch.com/blog/2014/05/12/judaism-and-disability-2-of-4-ancient-words-modern-sensibilities-disability-and-the-talmud [Datum des Zugriffs: 31.10.2021]
[3] Swinton, Falconer und Brock haben die therapeutische Funktion von Spiritualität in Camphillgemeinschaften in Zusammenhang mit Gefühlen wie „Hoffnung“ und „Zugehörigkeit“ untersucht (vgl. Lyons 2015: 22), eine Vertiefung der Rolle der Spiritualität im Rahmen der Behindertenhilfe wäre sicher ein spannendes, eigenständiges Thema, das hier zu weit führt.
[4] Interessant wäre eine weiterreichende wissenschaftliche Betrachtung, inwiefern die Tages- und Jahresstrukturierung als Methoden gefasst und evaluiert werden können, wozu sich auch ein Vergleich mit den Methoden im immer mehr in Mode kommenden TEACCH-Ansatz anbietet (Anm. J.R.).
[5] Manche Gemeinschaften haben sogar gleiche Einführungshandbücher für Klient*innen und Mitarbeiter*innen erstellt, um zu zeigen, dass es zwischen beiden eigentlich keinen Unterschied geben sollte (vgl. McKanan 2020: 87). Ein tieferer Blick in das Selbstverständnis als Gemeinschaft im Gegensatz zu dem einer Institution muss hier aus Platzgründen weggelassen werden, gäbe aber relevante Einblicke (vgl. Christie in Lyons 2015: 25 f.)
[6] “Treatment happens, but only when members are ill as in ordinary communities; you cannot ‘treat’ Down’s syndrome or autistic spectrum disorder. ‘Healing’ in a wider sense happens, but not as a temporary activity but a “continuous and everlasting process” which is as important for those who are not classified as learning disabled as for those who are. Caring happens too, indeed “villages are full of care” (Christie, 1984; 92) but this is part of life as in any community. Education and learning, cultural and religious practices, work and training, all these also happen within the villages, but none of them constitute aims in themselves or primary objectives.” (Lyons 2015: 26)
[7] Die Vergütung in Naturalien ist dabei oft sehr großzügig und kann zu großen Teilen steuerfrei ausgegeben werden: “Many communities have become quite wealthy and are able to pay for substantial benefits to co-workers that would be subject to tax in other parts of the economy.” (HMRC 2013: o.S.)
[8] „This is a new situation, dating only to the beginning of the present century. A movement-wide census conducted in 1976 identified just 218 paid workers out of 4,262 persons affiliated with Camphill (thus 5 percent of the whole), while a similar census conducted among the North American communities in 2018 counted 439 full- and part-time employees out of 1716 persons (26 percent), compared to 236 long-term lifesharing co-workers (14 percent), 237 short-term lifesharing co-workers (14 percent), and 425 residents with special needs (25 percent). 102 Scotland’s 2015 census identified 396 employees (28 percent), 171 long-term lifesharing co-workers (12 percent), 252 foundation students (18 percent), and 536 persons receiving support (37 percent). 103A year later, the ranks of the employees had swollen to 469, while the other categories remained roughly the same.“ (McKanan 2020: 112)
Literaturverzeichnis
Ellger-Rüttgardt, Sieglind (2019): Demokratischer Aufbruch und „Blüte der Heilpädagogik“: Die Weimarer Republik (1918–1933). In: Geschichte der Sonderpädagogik. Eine Einführung. Stuttgart, S. 199 – 241.
Heinrichsmeier, Christa (2000): „Camphill“ und „Arche“. Lebensqualität in der Gemeinschaft. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. Heft 6, S. 37 – 44.
HMRC (2013): Business Income Manual. BIM 22040 – Meaning of Trade: exceptions and alternative: co-workers of the Camphill Organization. https://www.gov.uk/hmrc-internal-manuals/business-income-manual/bim22040 [Datum des Zugriffs: 17.10.2021]
Jackson, Robin / Irvine, Helene (2012): The impact of ideology on provision of services for people with a learning disability. In: International Journal of Developmental Disabilities: Heft 58. https://research.camphill.edu/journal-publications/ [Datum des Zugriffs: 17.10.2021]
Lyons, Maria (2015): Re-Thinking Community Care. The Camphill Village Model. A Critical Appraisal. https://www.centreforwelfarereform.org/library/rethinking-community-care.html [Datum des Zugriffs: 17.10.2021]
McKanan, Dan (2020): Camphill and the Future. Spirituality and Disability in an Evolving Communal Movement. Oakland.
Schwartz, David (2016): The Spiritual Soul and the Self in Everyday Life: Human Encounter and Radical Gentleness. Vortrag am 6.10.2016 auf der International Conference for Curative Education and Social Therapy, October 3-7, 2016, Goetheanum, Dornach, Switzerland.
Scull, Andrew (2021): UK Deinstitutionalisation: Neoliberal Values and Mental Health. In: Ikkos, George / Bouras, Nick: Mind, State and Society. Social History of Psychiatry and Mental Health in Britain 1960–2010. Cambridge, S. 306 – 313, https://www.cambridge.org/core/books/mind-state-and-society/uk-deinstitutionalisation-neoliberal-values-and-mental-health/A84AA14AA02A7DC0DCC3A9528B189ED1 [Datum des Zugriffs: 25.10.2021]