Persönliche Zukunftsplanung
Kann Persönliche Zukunftsplanung Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten unterstützen?
Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) nennt mit der Einführung des § 78 Abs. 1 SGB IX erstmalig die „persönliche Lebensplanung“ von Leistungsberechtigten als mögliche Assistenzleistung in der Eingliederungshilfe, ohne diese genauer zu konkretisieren (vgl. Deutscher Bundestag 2016: 262). Konkreter wird der aktuell gültige Berliner Rahmenvertrag Eingliederungshilfe (BRV-EGH) als landesrechtliche Umsetzung der Regelungen des SGB IX. Hier wird festgelegt, dass die Assistenzleistung der persönlichen Lebensplanung „methodisch gestützt“ sein soll und eine Vielzahl an Methoden umfassen kann, wie:
„Biografiearbeit, Persönliche Zukunftsplanung, (…) Bewusstmachung von Wünschen beziehungsweise der Entwicklung von Anliegen, Zielen und Vorstellungen und der Befähigung zur Entwicklung von Leistungszielen“ (Anlage 4 Teil 1 § 5 BRV-EGH).
Das Handbuch der Berliner Sozialverwaltung zur Einführung des im Rahmen der BTHG-Umsetzung eingeführten Bedarfsermittlungsinstruments „Teilhabeinstrument Berlin“, kurz „TiB“, (Schäfers 2020) stellt fest, dass es einigen Personen schwerfallen könne, eine eigene Vorstellung vom Leben und persönliche Ziele zu formulieren. Ist die Klärung von Vorstellungen und Zielen im Bedarfsermittlungsverfahren nicht möglich, so könne die Assistenzleistung „persönliche Lebensplanung“ gewährt werden. Dabei verweist das TiB-Handbuch auf Verfahren der Persönlichen Zukunftsplanung (PZP) nach Doose (2004) (Schäfers 2020: 30f.).
Erwachsenen Systemsprenger*innen [1] – also Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und hochgradigen Verhaltensauffälligkeiten, die die „Grenzen und Regeln einer Einrichtung regelmäßig überschreiten“, den für sie zuständigen Fachkräften „besonders viel Arbeiter, Ärger und (…) Angst bereiten“ und dabei als „unkooperativ“ erlebt werden (Becker & Schlutz 2019: 8) [2] – scheint es in meiner beruflichen Erfahrung in der Eingliederungshilfe oft nur sehr begrenzt bis gar nicht möglich, Vorstellungen für das eigene Leben zu benennen und Zukunftswünsche zu entwickeln. Ursachen sollen an dieser Stelle nicht thematisiert werden, sondern ich möchte den Blick auf einen möglichen Perspektivwechsel lenken – weg von einer vermeintlichen Unmöglichkeit von Zukunftsplanung dieser Gruppe hin zu Chancen und Möglichkeiten, zur Entwicklung eigener Vorstellungen und persönlicher Ziele. Becker & Schlutz stellen fest, dass Systemsprenger*innen eigentlich „Menschen mit starkem Willen zur Eigenständigkeit“ sind, die hartnäckig ihre eigenen Vorstellungen vom Leben verfolgen und als „Experten für Eigensinn“ tituliert werden könnten (8). Daraus könnte man schließen, dass sie doch eine klare Vorstellung von ihrem Leben haben, diese jedoch nicht mit unseren Vorstellungen als Fachkräfte oder mit gesellschaftlichen Normen kompatibel ist und deshalb nicht als solche ernst genommen wird. Wir könnten also von Hürden in der Zukunftsplanung sprechen, nicht jedoch von der Unmöglichkeit, über Zukunft nachzudenken. Die Arbeit in Anbetracht der Hürden stellt an uns als Fachkräfte außerordentliche Anforderungen (9).
Ich möchte hier der Frage nachgehen, warum PZP mit Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und hochgradigen Verhaltensauffälligkeiten trotz aller Hürden im Interesse der Adressat*innen sein könnte. Im 1. Teil werde ich zunächst Dooses Publikation sowie „Unterstützer*innenkreise“ als Kernmethode der PZP vorstellen, um dann im 2. Teil Chancen und Herausforderungen im Arbeitsalltag zu diskutieren.
Persönliche Zukunftsplanung
Seit seiner Erstauflage im Jahr 1996 ist Dooses Praxisbuch unter dem Titel „‘I want my dream!‘ Persönliche Zukunftsplanung“ stetig gewachsen und inzwischen in der 11. Auflage (siehe Doose 2020)[3] erschienen. Das Buch stellt das einzige in deutscher Sprache verfügbare Praxisbuch zur PZP dar und kann damit ohne Zweifel als Standardwerk betrachtet werden. Ich stelle zunächst kurz die Ziele der PZP vor, gehe auf Struktur und Inhalte von Dooses Praxisbuch ein und schließe mit der Vorstellung einer Schlüsselmethode der PZP.
Ziele
Der Ausgangspunkt der PZP ist es, „gemeinsam eine erfreuliche, hoffnungsvolle Zukunft und ein gutes, passendes Leben [zu] gestalten“ (Doose 2020: 7). Mit diesem Ziel bekommen Adressat*innen Unterstützung bei der Klärung ihrer grundsätzlichen Wünsche und Vorstellungen in Bezug auf Lebensgestaltung, Wohnform, Arbeit, Bildung, Freizeit und Beziehungen (46). Das Ziel ist neben einer Verbesserung der Lebensqualität auch die Erforschung und Entwicklung neuer Verhaltensmuster oder Selbstbilder (37). So steht zunächst das „Individuum mit seinen Träumen, Wünschen, Gaben, aber auch seinen Begrenzungen, Ängsten und Hindernissen“ im Mittelpunkt (Donati & Pohl 2015: 27), um darauf aufbauend Hilfebedarfe zu benennen und hilfreiche Unterstützungen im Sozialraum unter Berücksichtigung von Ressourcen zu entwickeln und zu begleiten (Doose 2020: 8).
Die PZP kann zwar als Vorbereitung und Begleitung der offiziellen Hilfeplanung des Leistungsträgers verwendet werden (Doose 2019: 178; Schäfers 2020: 30f.), unterscheidet sich in ihrem Auftrag und ihren Zielen jedoch grundlegend von dieser. Anders als die Hilfeplanung des Leistungsträgers ist sie für die Adressat*innen eine auf allen Ebenen freiwillige und ergebnisoffene Leistung, die gewählt werden kann, ohne dabei eine Zugangsvoraussetzung für Leistungen zu sein. Nicht nur die Teilnahme ist freiwillig, sondern auch die Auswahl von Gesprächspartner*innen und Unterstützer*innen, von Methoden, Inhalten und Regeln. Ist für die Bedarfsermittlung des Leistungsträgers in der Regel ein kurzer Zeitraum von wenigen Wochen vorgesehen, so kann die PZP über sehr viel längere Zeiträume geplant werden (Doose 2019: 177; 2020: 47).
Doose beschreibt, dass die Ziele der PZP nicht nur die Adressat*innen betreffen, sondern auch innerhalb von betreuenden Organisationen und dem Gemeinwesen gesetzt werden müssen:
„Es geht neben der Erreichung persönlicher Ziele für die Person also auch um die Frage der Gestaltung von hilfreicher Unterstützung, um den Aufbau und die Nutzung von Ressourcen vor Ort im Sinne der Sozialraumorientierung und um die Weiterentwicklung von Dienstleistungen einer Organisation. Es bedarf also lernender Organisationen, die offen und bereit sind, am Einzelfall zu lernen, wie sie ihre Unterstützung weiterentwickeln können und mit dazu beitragen, dass das Gemeinwesen ein guter Ort der Teilhabe und Teilgabe für die Person und für alle Menschen in ihrer Vielfalt ist.“ (Doose 2020: 8)
Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass sich für Adressat*innen nur etwas ändern kann, wenn sich auch innerhalb von Organisationen und Gemeinwesen etwas ändert. Hierzu müssen Werte wie Personen-, Sozialraum- und Beziehungsorientierung nicht nur in Leitbildern benannt, sondern auf allen Ebenen ausgestaltet und gelebt werden (Doose 2020: 8;118ff.).
Inhalte des Praxisbuchs
Das Buch umfasst sowohl Theorie als auch Methoden. Beide Bereiche sind über die Jahre deutlich ausgebaut worden[4] und bieten in der aktuellen 11. Ausgabe sowohl in Hinblick auf Theorie als auch Methoden eine umfassende, wissenschaftlich fundierte Sammlung (Übersicht 1). Der theoretische Teil bearbeitet den historischen, politischen und fachlichen Kontext der PZP. Neben einer Einführung in die Geschichte der Behindertenrechtsbewegung (Doose 2020: 9ff.) und einem Abriss der Geschichte der PZP (125ff.) wurde in die 11. Ausgabe auch die aktuelle sozialrechtliche Entwicklung in Deutschland aufgenommen, insbesondere die Thematik der durch BTHG grundlegend geänderten Hilfeplanung (3ff.; 40ff.). Eine detaillierte Abgrenzung zwischen institutioneller Hilfeplanung und PZP beschreibt systemische Unterschiede beider Ansätze (35ff.). Das Buch enthält eine umfangreiche theoretische Einführung in die PZP (15ff.; 48ff.) und kommt auch auf Qualitätskriterien (M1) sowie auf Fragen nach Weiterentwicklung des sozialarbeiterischen Selbstverständnisses und der Organisationsentwicklung (117ff.; M4ff.; M50) zu sprechen. Der anwendungsorientierte praktische Teil besteht aus einer umfangreichen Methodensammlung (51ff.; Abb. 1 rechts) und einem ergänzenden Materialteil mit zahlreichen Kopiervorlagen (Buchteil beginnend mit „M“) [5].
Übersicht 1: Struktur und Inhalte von "I want my dream" (Doose 2020)
Seitenangaben lt. Doose 2020
Theorie
Einführung in persönliche Zukunftsplanung:
einleitende Gedanken (3-8)
inhaltliche Grundlinien (15-34; M3)
Bereiche und Akteure (48-50)
Qualitätskriterien (M1)
Historischer und politischer Kontext
historische Entwicklung der Behindertenrechte (9-14)
Geschichte der persönlichen Zukunftsplanung im deutschsprachigen Raum (125-132)
Gegenüberstellung institutionelle Hilfeplanung und persönliche Zukunftsplanung (35-39)
Kontextualisierung im Rahmen der BTHG-Umsetzung (40-47)
Reflexion von sozialarbeiterischem Selbstverständnis und möglichen organisationalen Entwicklungen (117-123; M4-7; M50)
Methoden
„Kleine Methoden“ nach Themen (51-96)
Lebensstil (54-56)
Lebensweg (57-58)
Werte und Tugenden (59-60)
Stärken, Gaben, Fähigkeiten und Ressourcen (61-70)
Kommunikation (71-72)
Träume (73-74)
Ziele (75-81)
Menschen (82-86)
Ort (87)
Unterstützung (88)
Entscheidungen (89-93)
Profil und Plan (93-95)
Reflexion (95-96)
„Große Methoden“ (97-132)
Unterstützer*innen-Kreise (97-107)
Persönliche Lagebesprechung (108-111)
MAPS (112-113; M52)
PATH (114-116; M53)
Liberty Plan (M54)
Verzeichnis der Methoden (133)
Materialteil (Nummerierung beginnend mit „M1“)
Die Methoden sind in „kleine“ und „große“ Methoden gegliedert. Die knapp 100 „kleinen“ Methoden sind nach Themenbereichen wie „Lebensweg“, „Träume“, „Stärken“, „Ziele“ und „Reflexion“ kategorisiert (Übersicht 2). Diese Themenbereiche umfassen sowohl eine Bestandsaufnahme als auch einen Blick in die Zukunft mit klar planbaren Schritten. Jedem Themenbereich sind mehrere Methoden zugeordnet, die kontextbezogen ausgewählt werden können. So schlägt Doose zur Biografiearbeit eine Methode namens „Revisep“ vor, in der es darum geht, „sich in einer strukturierten Art und Weise an die guten Dinge im Leben zu erinnern“ und diese mit Fotos, Zeichnungen oder Symbolen auf einem Plakat festzuhalten (Doose 2020: 58). Auch klassische Methoden der sozialen Diagnostik[6], wie die Netzwerkkarte (85), stehen zur Auswahl. Im angehängten Materialteil des Buches (M1ff.) werden praktische Arbeitsblätter zu vielen der Methoden bereitgestellt.
Die „kleinen“ Methoden können vorbereitend und auch als Arbeitsschritte der „großen“ Methoden genutzt werden. In den „großen“ Methoden geht es vor allem um den Aufbau eines Unterstützernetzwerkes, das gemeinsam mit der Adressat*in deren Lebensplanung reflektiert und begleitet.
Für die Arbeit mit diesen Methoden stellt Doose (2019: 177) klar, dass es nicht um einen Selbstzweck der Methodenanwendung geht, sondern letztlich um Beziehungen, um ein Kennenlernen der Person und ihrer Geschichte(n), mit dem Ziel
„Stärken und Fähigkeiten zu entdecken, sich über Werte und Tugenden auszutauschen, zu träumen, sich Ziele zu setzen, wichtige Menschen zu identifizieren, interessante Orte im Sozialraum zu finden und passende Unterstützung zu organisieren.“ (Doose 2020: 51)
Diese Zielsetzungen können mit den „kleinen“ Methoden ausgearbeitet und mittels einer der „großen“ Methoden zusammengeführt werden. Wie das konkret aussehen kann, stelle ich nun am Beispiel von „Unterstützter*innenkreisen“ vor.
Übersicht 2: Auswahl „kleiner“ Methoden nach Themen (Doose 2020: 51ff.)
„Kleine“ Methoden nach Themen (Auswahl, Seitenangaben lt. Doose 2020)
Lebensstil (54-56):
Routinen (55; M9ff.)
3 Gute Dinge an diesem Tag (55; M12)
Lebensweg (57-58):
Mein Lebensweg (57)
REVISEP – Erinnerung an die schönen Momente im Leben (58)
Werte und Tugenden (59-60):
Werte und Tugenden (59)
Persönlichen Nordstern gestalten (60; M15)
Stärken, Gaben, Fähigkeiten und Ressourcen (61-70):
Stärken-Plakat (66; M16ff.)
Ressourcen-Karte (69; M26)
Kommunikation (71-72):
Kommunikations-Karten (72; M27)
Empathie-Karte (72; M28)
Träume (73-74):
Traumwolke (73; M29)
Ziele (75-81):
Aktionsplan (79)
WOOP (79-80)
Menschen (82-86):
8-Felder-Karte (84; M37)
Netzwerkkarte (85; M39)
Orte (87):
Autofotografie (87)
Nadelmethode (88)
Unterstützung (88):
Passende Unterstützung finden (88)
Entscheidungen (89-93):
Y-Plakat (91; M63)
Profil und Plan (93-95):
Arbeitsheft „Meine persönliche Zukunftsplanung“ (95; Marshall u. a. 2019)
Reflexion (95-96):
4+1-Frage (95)
Kreisverkehr (96)
Unterstützer*innenkreise als Schlüsselmethode
Unterstützer*innenkreise sind mehr als nur eine der „großen“ Methoden, sie sind ein „zentrales Element der Persönlichen Zukunftsplanung“ (Doose 2019: 176), gewissermaßen deren „Kraftzelle“ (178). Ich werde jetzt kurz Ziele, Akteur*innen, Abläufe und Methoden von Unterstützer*innenkreisen vorstellen und deren möglichen Ablauf anhand einer „Persönlichen Lagebesprechung“ illustrieren.
Unterstützer*innenkreise sollen die Adressat*in „stärken, ermutigen und unterstützen“, indem sie die Vision einer „guten Zukunft“ entwerfen, Ziele herausfinden und deren Umsetzung planen sowie diese mit ihren Hochs und Tiefs begleiten. Unterstützer*innen nehmen nicht nur am Planungsprozess teil, sondern können nach ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten ganz konkret an einzelne Aufgaben in der Unterstützung der Person übernehmen (Doose 2020: 100). Donati & Pohl beschreiben den Auftrag, „so utopisch, so unrealistisch, so verrückt wie möglich zu träumen“. Träume müssen nicht sofort in realistische Ziele umgesetzt werden, sondern dienen als Orientierung für die weitere Zukunftsplanung. Sie stellen heraus, dass der Planungsprozess „Gemeinsamkeiten in den Vordergrund rückte, im gemeinsamen Nachdenken das Gruppengefühl stärkte und dessen positives Ergebnis […] alle Beteiligten beflügelte“ (Donati & Pohl 2015: 29). Boban geht einen Schritt weiter, wenn sie feststellt, dass es hierbei um die Veränderung von Gemeinschaft gehe, in der Menschen mit Behinderungen Gleichberechtigung und Inklusion verwirklichen (Boban 2003: 3; 2007: 3). Im Konzept solcher Kreise geht es nach Fietkau (2017: 111) letztlich nicht um eine einzelne Person, sondern um die Gestaltung von Gemeinschaften und zwischenmenschlichen Beziehungen.
Im Zentrum eines Unterstützer*innenkreises steht die Adressat*in, auch „planende Person“ (Doose 2020: 101) genannt. Die planende Person lädt von sich aus weitere Kreismitglieder aus professionellen Helfer*innen, Familienmitgliedern, Freunden oder Ehrenamtlichen ein. Die Auswahl ist subjektiv und vor allem vielfältig: Menschen mit Ideen, mit Fachwissen, mit praktischen Fähigkeiten oder solche, die der planenden Person besonders am Herzen liegen, die ihr besonders nah stehen oder ihr vielleicht nur vage bekannt sind (97). Donati & Pohl (2015: 29) heben die Beiträge von Peers als besonders hilfreich hervor und stellen auch fest, dass die Beiträge von sehr unterschiedlichen Perspektiven genutzt zur Entwicklung eines Gesamtbildes der Person genutzt werden können (37). Ein wesentliches Merkmal ist die freiwillige Teilnahme sowohl der planenden Person als auch der Unterstützer*innen (Fietkau 2017: 118), wobei der Kreis sich als „eine Gemeinschaft um die Person herum [bildet], die aus dem einen oder anderen Grund nicht in der Lage ist, die eigenen Ziele selbstständig zu verwirklichen.“ (Fietkau 2017: 111). Neben der planenden Person und einer heterogenen Gruppe an Unterstützer*innen besteht ein solcher Kreis idealerweise aus einer Moderator*in, einer zeichnenden und schreibenden Protokollant*in und einer Agent*in. Die Agent*in wird vor allem außerhalb der Treffen in der praktischen Umsetzung aktiv (Doose 2020: 101). Moderator*innen sollten in PZP erfahren oder besser noch trainiert sein und den Prozess für sich selbst bereits durchlaufen haben (Boban 2003: 5). Es können „strategisch wichtige Personen“ und bei Bedarf auch externe Expert*innen hinzugezogen oder eingebunden (Fietkau 2017: 119) sowie Kooperationen mit externen Instanzen wie relevanten Leistungsträgers und Leistungserbringern angestrebt und gestaltet werden, um „gemeinsam positive Veränderungen für die Hauptperson zu erreichen“ (Fietkau 2017: 126).
Unterstützer*innenkreise haben keine formalen Vorgaben, weder zur Größe und Zusammensetzung noch zur inhaltlichen und zeitlichen Gestaltung (Fietkau 2017: 117). Je nach Bedarf können sich die Kreise mehr oder weniger regelmäßig treffen. Dabei wird die Arbeit in Zeiten des Übergangs von einem Lebensabschnitt in den nächsten oder in Krisensituationen stärker sein, in anderen Phasen wird es nur unregelmäßige Treffen geben, um den Kontakt zu halten (Doose 2020: 97). Zwischen den Treffen kann eine intensive Umsetzung im kleinen Kreise oder mit der Agent*in stattfinden (102). Dauer wie auch die Form der Treffen richten sich ganz nach der planenden Person und den Unterstützer*innen, abhängig von deren zeitlicher Verfügbarkeit und auch Durchhaltevermögen: von Kurztreffen bis zu mehrtägigen Veranstaltungen, vom nüchternen Planungstreffen bis zu „Zukunftsfesten“ ist alles möglich (101).
In einer „Persönlichen Lagebesprechung“ [7] als einem möglichen Ablauf von Unterstützer*innenkreisen kommen in der ersten Phase die Unterstützer*innen mit der planenden Person zusammen, lernen sich gegenseitig kennen, vereinbaren Gesprächsregeln und tragen in einem Brainstorming Gaben, Stärken, Fähigkeiten und Ressourcen der planenden Person zusammen. In der zweiten Phase werden Ideen gesammelt: Der Kreis trägt zusammen, was gut und was nicht gut läuft, was der planenden Person wichtig ist und was ihre Bedürfnisse und Bedarfe sind. Aufbauend darauf wird in der dritten Phase ein Aktionsplan entwickelt und beschlossen (Doose 2020: 108ff.).
Nachdem wir nun einen groben Überblick über die PZP nach Doose bekommen haben, werde ich diese jetzt im Kontext der sozialarbeiterischen Berufspraxis reflektieren.
Reflexion
Zur Diskussion der Anwendung der PZP im sozialarbeiterischen Alltag werde ich zunächst die Ausgangssituation skizzieren, und dann Chancen und Herausforderungen besprechen.
Ausgangssituation
Die Ausgangssituation möchte ich aus zwei Perspektiven betrachten: aus einer allgemeinen Perspektive der Situation von Menschen mit seelischen Behinderungen, die ich mit spezifischen Erfahrungen ergänze, aus meinem Arbeitsalltag in der Arbeit mit erwachsenen „Systemsprenger*innen aka Expert*innen für Eigensinn“ in der Eingliederungshilfe im Land Berlin. Dabei werfen wir einen Blick auf Prozesse der Hilfeplanung, die Rolle von Familienangehörigen und das Phänomen der Vereinsamung von Adressat*innen.
Aus dem Berufsalltag kennen wir gut, dass die Einführung des „Teilhabeinstrument Berlin“ (TiB) und die dazugehörigen TiB-Gespräche bei vielen Adressat*innen Angst auslösen: Anders als in der Vergangenheit müssen Sie sich nun selbst vertreten, ihre Bedürfnisse und Wünsche benennen und ihre Ziele formulieren. Viele sehen sich dazu nicht in der Lage. Nicht wenige können aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung weder Bedürfnisse noch Wünsche äußern. Kommen sie dann in ein solches TiB-Gespräch – ebenso wie in Helferkonferenzen oder Anhörungen beim Steuerungsgremium Psychiatrie – so wirkt die Atmosphäre auf sie häufig einschüchternd. Doose (2020: 45) berichtet von einer Teilhabekonferenz, in der sich alle Teilnehmenden vorstellten und dabei ihre jeweilige Funktion herausstellten. Die Adressat*in kam bezeichnenderweise zuletzt zu Wort, nannte ihren Namen und fügte hinzu: „Ich habe keine Position.“ Diese Anekdote drückt eine Ohnmacht von Adressat*innen in der Hilfeplanung aus und beschreibt ihre Rolle relativ gut: Sie haben häufig keine, sie „werden geplant“, sind damit häufig Objekte und nicht aktiv Handelnde und Planende. In vielen Fällen, so ist meine Erfahrung, werden Wünsche nur sehr bedingt berücksichtigt, Adressat*innen werden gar aufgefordert, Unterschriften unter Hilfeplanungen zu setzen, die sie weder lesen sollen noch in Kopie erhalten. Ich persönliche arbeite grundsätzlich die Hilfeplanung mit den Adressat*innen durch, sehe jedoch, wie schwierig es ist, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit dies auch adäquat zu tun. Es kommt hier also ganz wesentlich auf die Grundhaltung der Fachkräfte an. Von dieser, so Doose, hängt es ganz wesentlich ab, ob „Teilhabe-, Hilfeplan- oder Gesamtplankonferenzen eher zu einer für die Betroffenen unangenehmen ‚Anhörung‘ oder zu einem bestärkenden Erlebnis von Selbstwirksamkeit werden“ (ebd.).
Auch wenn Adressat*innen intensiv betreut werden, so bleibt oft ein hoher Verantwortungsdruck bei der Familie. Selbst bei maximaler Unterstützung sind für Menschen mit seelischen Behinderungen nicht mehr als 20 Betreuungsstunden pro Woche vorgesehen (Landesbeauftragte für psychische Gesundheit 2010: 13), die sich in manchen Fällen auf mehrere Leistungserbringer aufteilt (14). Bei sog. Systemsprenger*innen ist es in meiner Erfahrung praktisch ausgeschlossen, dass sie Zugang zu Werkstätten für Menschen mit Behinderungen bekommen. Auch deren Fördergruppen bleiben ihnen in der Regel verschlossen. Das heißt im Umkehrschluss, dass die Betreuungsarbeit bei den Wohneinrichtungen und dem direkten sozialen Umfeld liegt. Die öffentliche Unterstützung ist stark begrenzt, und private Unterstützung ist für viele essenziell (Fietkau 2017: 114). Dabei springen vor allem auch in Krisenzeiten häufig Eltern oder Geschwister ein. Je häufiger die Krisen und je chronischer akute psychische Belastungen, desto größer der Druck auf die Familie, Versorgungslücken zu füllen, die weder durch die Eingliederungshilfe noch durch die psychiatrische Versorgung gedeckt werden. Die Erfahrung ist, dass Menschen in besonders schwierigen Situationen häufig durch alle Raster fallen. Doose stellt fest, dass Angehörige „gerne die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilen [möchten] und nicht z. B. alleinig ein Geschwisterteil mit der gesetzlichen Betreuung betrauen oder sich vollständig auf ein professionelles System verlassen“ (Doose 2019: 178f.).
Ein weiterer Aspekt ist die Einsamkeit, die viele Adressat*innen spüren (Becker & Schlutz 2019: 212ff.). Im Betreuungsalltag beobachten wir häufig, dass Menschen mit schweren Verhaltensauffälligkeiten wenige oder gar keine Freunde haben, in vielen Fällen sich entweder von ihren Familien entfremdet haben oder zwar einen engen Kontakt halten, dieser aber für alle Beteiligten enorm belastend ist. In vielen Fällen sind häufig die Profis die einzigen vermeintlichen Freunde: Sozialarbeiter*innen, Pfleger*innen, Bewährungs*helfer*innen, die ihnen zur Seite stehen, dabei oft aber nicht zwingend wohlgesonnen sind – da auch sie schlichtweg überfordert sind und trotz Ausbildung und Berufserfahrung häufig nicht wissen, wie sie mit schwer psychisch Kranken umgehen sollen. Becker & Schlutz machen einen Erklärungsversuch der Entfremdung und Vereinsamung von Menschen mit schweren seelischen Erkrankungen:
„Deren Denken und Verhalten ist plötzlich in Teilbereichen ohne erkennbaren Sinn und im Zusammensein irritierend und störend, manchmal auch unheimlich oder bedrohlich. Bislang selbstverständliche gemeinsame Vorstellungen bestehen nicht mehr. Dieser Anteil der Persönlichkeit eines erkrankten Menschen wird als fremd erlebt.“ (213) Einsamkeit und die damit einhergehende „Verunsicherung des Ich-Erlebens“ könnte tatsächlich das „größte Leid bei schweren seelischen Erkrankungen“ sein (214). Dieser kurze Abriss zeigt einige Problemstellungen zwischen fremdgesteuerter Hilfeplanung und einem überforderten Umfeld, das in einem Gefühl von Einsamkeit der Adressat*innen resultiert.
Chancen
Zunächst möchte ich mit meiner persönlichen Einschätzung auf die in der Ausgangssituation genannten Punkte antworten, um dann kurz weitere positive Perspektiven der PZP zu nennen.
PZP kann dazu verwendet werden, TiB-Gespräche vorzubereiten (Schäfer 2020: 31). Damit wir den Adressat*innen die Angst vor den Gesprächen genommen, die inhaltliche Arbeit hat vorher in einem sicheren Umfeld stattgefunden und Inhalte können auch in Form von Arbeitsmappen an die Teilhabeplaner*innen übergeben werden. So bleibt viel Zeit und Raum, Ressourcen und Fähigkeiten zu erforschen und daraus Wünsche für die Hilfeplanung des Leistungsträgers zu formulieren. Da insbesondere Unterstützer*innenkreise auf Dauer angelegt sind, erfüllen sie eine weitere Funktion, gewissermaßen eine Evaluations-, Kontroll- oder möglicherweise sogar „Anwaltsfunktion“: Erfüllt der Leistungsträger seine gesetzlichen Pflichten und stellt notwendige Hilfen bereit? Kommt der Leistungserbringer seinen Aufgaben nach? Wie kann der Unterstützerkreis vermittelnd im sozialrechtlichen Dreieck [8] von Adressat*in, Leistungserbringer(n) und Leistungsträger wirken? Wo kann sich die Adressat*in über ihre Reche informieren und bei Bedarf rechtliche Unterstützung suchen? Hier tut sich ein großes, weiter zu erforschendes Feld auf, Unterstützung „bottom-up“ zu organisieren und zu evaluieren.
Eine weitere Chance, die sich direkt aus der Ausgangssituation ableiten lässt, ist die Entlastung einzelner Unterstützter*innen durch ein Netzwerk an hilfsbereiten Personen und Institutionen. Mit diesem Gemeinschaftsgedanken wird sowohl ein gemeinschaftliches [9] als auch ein sozialräumliches Prinzip [10] umgesetzt, das nicht nur überlastete Familienangehörige entlastet, sondern auch professionellen Helfer*innen einen multiperspektivischen Blick auf die Adressat*in gibt. Vor allem in der Arbeit mit Systemsprenger*innen sind in meiner Erfahrung nicht selten auch Fachkräfte in Psychiatrie, Sozialarbeit und Rechtswesen fraglos, hilflos und überfordert. Die kollektive Herangehensweise der Unterstützer*innenkreise kann als Chance gesehen werden, langfristig und mit vereinten Kräften Adressat*innen zu helfen, die aufgrund der Schwere ihrer psychischen Erkrankung aus Sicht vieler bereits aufgegeben wurden.
Mit Blick auf die soziale Isolierung und Vereinsamung vieler Adressat*innen ist zu vermuten, dass vor allem Unterstützer*innenkreise eine neue soziale Perspektive schaffen können: Neben praktischer Unterstützung können sich Kontakte stabilisieren und neue Kontakte geknüpft werden. Boban beschreibt den Zusammenhang von Einsamkeit und den Chancen von Unterstützer*innenkreisen:
„Wenn (…) Einsamkeit die einzige wirkliche Behinderung ist, dann sind Wege zu ‚Zweisamkeit‘ und Mehrsamkeit‘ und gar ‚Vielsamkeit‘ Formen der ‚Enthinderung‘ – der Aufbau eines Unterstützerkreises ist ein aktiver Beitrag dazu, denn es ist eine starke Verbindungsstiftung, gemeinsame Hoffnungen zu haben.“ (Boban 2007: 7)
Die Gemeinschaft, die sich in Unterstützer*innenkreisen bildet, ist ein Geben und Nehmen für alle Beteiligten: Unterstützer*innen empfinden die Einladung zur Unterstützung als beglückend, ein Bedürfnis nach „gegenseitiger ‚Anteilnahme‘ und ‚Anteilgabe‘“ werde geweckt (Boban 2007: 11). Eine Stärke von Unterstützer*innenkreisen über die reine Unterstützung hinaus ist, wie in Kapitel 1.3 beschrieben, der Aufbau einer Gemeinschaft.
Diese Idee einer unterstützenden Gemeinschaft kann auch eine Entlastung für Eltern erwachsener Menschen mit Beeinträchtigung sein und ihnen die Gewissheit geben, dass ihre Kinder auch nach dem eigenen Ableben eine empathische und verlässliche Begleitung haben, die nicht nur von einem spezifischen Leistungserbringer oder von Einzelpersonen abhängig ist (Doose 2019: 178f.).
Vor allem Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und hochgradigen Verhaltensauffälligkeiten bekommen mit PZP, insbesondere in Unterstützer*innenkreisen, eine langfristige Möglichkeit, ihre Stärken und Ressourcen zu erkennen und weiterzuentwickeln. In der Zielentwicklung geht es bei ihnen darum, keinen – für sie ohnehin nicht infrage kommenden – normativen Lebensentwurf umzusetzen oder gar vorzugeben, sondern ihrer Eigenwilligkeit und Selbstbestimmung maximale Entfaltung jenseits von Fremdbestimmung und Kontrolle zu geben (Roerick 2023b: 11ff.). Ganz im Sinne der Gewaltfreien Kommunikation (Rosenberg 2016; Bendler & Heise 2018) kann in Unterstützer*innenkreis das gewaltfreie Benennen von Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen erlernt und angewandt werden. Davies (2000), der einen radikal positiven Ansatz für die Arbeit mit Extremverhalten im psychiatrischen Kontext entwickelt hat, beschreibt, wie die Stärkung positiven Erlebens sowie ein lösungsorientierter Blick in Gegenwart und Zukunft negative Verhaltensmuster zunehmend überflüssig werden lässt (27ff.). Genau von diesem Effekt ist auch bei PZP auszugehen, zumal sich viele Aspekte des Ansatzes von Davies auch in der PZP wiederfinden [11].
Für die institutionelle Hilfeplanung kann die PZP eine gute Grundlage sein, ihre Angebote nach Kriterien von Personenzentrierung und Sozialraumorientierung zu gestalten. Doose stellt fest, dass PZP „eine hervorragende Vorbereitung auf die Bedarfsermittlung im Rahmen einer offiziellen Teilhabe-, Hilfe-, Gesamt- oder Berufswegeplanung sein“ kann (Doose 2020: 47). Durch die Übernahme von Planungsprozessen durch den Unterstützer*innenkreis wird der Planungsaufwand von Leistungserbringern und Leistungsträgern verringert [12] und das soziale Netzwerk wird im Interesse aller – nicht zuletzt im Kosteninteresse des Leistungsträgers – aktiviert (142). Dabei geht es nicht nur um die persönlichen Ziele von Adressat*innen, sondern auch um die Angebotserweiterung von Organisationen, die als lernende Organisationen einen Beitrag leisten, „dass das Gemeinwesen ein guter Ort der Teilhabe und Teilgabe für die Person und für alle Menschen in ihrer Vielfalt ist“ (Doose 2020: 8).
In der Regel ist davon auszugehen, dass die PZP auf vielen Ebenen positive Dynamiken auslöst (Doose 2020: 105). Doch selbstverständlich ist auch dieser Ansatz, wie jeder andere, nicht ohne Herausforderungen und Risiken.
Herausforderungen
Die Veränderungsprozesse, die PZP anstößt, können auch negative Dynamiken auslösen. So können Befürchtungen, Ängsten und Widerstände sowohl bei der Adressat*in als auch bei den Unterstützer*innen zutage treten und aufgrund negativer Vorerfahrungen Defizite und Unmöglichkeiten in den Vordergrund stellen (Doose 2020: 105). Nicht allen Unterstützer*innenkreisen gelingt eine erfolgreiche Zusammenarbeit (Fietkau 2017: 137). Dies zeigt, wie wichtig eine gute Vorbereitung und Moderation sind. Vor allem auch das Training von Moderator*innen erscheint notwendig, ohne dass es ausreichende Angebote dafür gäbe.[13]
Werden Unterstützer*innenkreise vom Leistungserbringer vorgeschrieben, wie im TiB-Handbuch geschehen (Schäfers 2020: 31), so stellt Fietkau (2017: 141) sich die Frage, ob diese dadurch ihren „grundlegenden Charakter der Freiheit verlören. Die Abgrenzung zum professionellen Unterstützungssystem bleibt somit eine Herausforderung, die genauer betrachtet werden müssten (139ff.). Hiermit stellt sich auch die ungeklärte Frage, wo PZP als Assistenzleistung nach § 78 (1) SGB IX angesiedelt werden könnte. Große Distanz von Akteur*innen der PZP könnte diese in einen zu großen Gegensatz zum Hilfesystem setzen und zerreibend wirken. Andererseits ist eine Unabhängigkeit vom institutionellen Hilfesystem essenziell für das Gelingen (Doose 219: 179).
Die hier angedeuteten Herausforderungen weisen auch darauf hin, dass die Rolle PZP bisher nicht ausreichend erprobt und erforscht ist. Damit können wir die Herausforderungen auch als Aufforderung verstehen, in Erprobung und Erforschung des Ansatzes zu gehen, und diese als sozialarbeiterische Methodik weiter zu etablieren.
Fazit
Neben einer allgemeinen Vorstellung und Diskussion der PZP habe ich in dieser Arbeit den Blick auf die Schlüsselmethode der PZP gelenkt: Unterstützer*innenkreise. Während die anderen Methoden der PZP unter dem Oberbegriff sozialarbeiterischer Diagnostik betrachtet werden könnten, passiert in den Unterstützer*innenkreisen deutlich mehr: Sie bauen eine unterstützende Gemeinschaft um die Adressat*in herum auf, bringen ihr soziales Netzwerk zusammen, um mit ihr über eine positivere Zukunft nachzudenken und diese über die Jahre umzusetzen. Mehr als eine einmalige anzuwendende Methode sind Unterstützer*innenkreise ein sich über viele Jahre erstreckender, wenn nicht lebenslanger. Für die Arbeit mit den Schwierigsten unserer Adressat*innen – Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und hochgradigen Verhaltensauffälligkeiten, die wir in dieser Arbeit „Systemsprenger*innen aka Expert*innen für Eigensinn“ genannt haben – erscheint mir der Ansatz besonders bedenkenswert. Die Adressat*innen fühlen sich in der Regel von ihrer Umgebung nicht verstanden, ziehen sich zurück oder geraten in Dauerkonflikte mit ihrem Umfeld – in beiden Fällen vereinsamen viele unter ihnen. Einzelne Helfende – egal ob Profis oder Familienangehörige – sind häufig mit den aufkommenden Problemen überfordert, sehen keine Lösung und verlieren in vielen Fällen die Hoffnung. Ich gehe davon aus, dass mit der kollektiven Intelligenz von Unterstützer*innenkreisen ganz neue Möglichkeiten entstehen können: langfristige, wohlwollende und zugleich strukturierte Begleitung durch ein heterogenes Netzwerk von professionellem und ehrenamtlichem Unterstützer*innen, die sich die Adressat*in selbst aussucht. Ob das so funktioniert, wie erwartet? Die Antwort kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Der nächste Schritt: ein Pilotprojekt von Unterstützter*innenkreisen für Menschen mit Eigensinn.[14]
Endnoten
[1][1] Ich bin mir der möglichen stigmatisierenden Wirkung des Begriffs „Systemsprenger*innen“ bewusst, nutze ihn aber dennoch und wertneutral, da er besser als jeder andere Begriff Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und extremen Verhaltensauffälligkeiten beschreibt. Hier müsste sich eigentlich die Frage nach normativen Werten anschließen, die ein System definieren, das von „Systemsprenger*innen“ gesprengt wird. Ich haben in meinem Leben und meiner Berufpraxis auch Systeme erlebt, in denen „Systemsprenger*innen“ kein System sprengten, sondern einfach etwas bunter und wilder machten.
[2] Für einen tieferen Einstieg in die Thematik der erwachsenen Systemsprenger*innen empfehle ich den Sammelband „Hard to Reach: Schwer erreichbare Klientel unterstützen (Giertz u. a. 2021), die Ausgabe der Zeitschrift „Soziale Psychiatrie“ zum Thema „Systemfehler? Schwer zu erreichen ist nicht unerreichbar“ (Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) 2023) sowie Publikationen zum Thema „Eigensinn“ (wie zum Beispiel Bock 2021; Becker & Schlutz 2019). Der Frage nach Eigensinn im Kontext der BTHG-Umsetzung bin ich an anderer Stelle nachgegangen (Roerick 2023a).
[3] „I want my dream!“ (Doose 2020) ist im Folgejahr auch als leicht veränderte Online-Ausgabe erschienen (Doose 2021), die jedoch ein anderes Layout und eine andere Paginierung hat, an einzelnen Stellen inhaltlich abweicht und ohne Materialteil veröffentlicht wurde. Anders als die Buchausgabe ist sie barrierefrei.
Das TiB-Handbuch verweist auf die 7. Ausgabe aus dem Jahr 2004 (Schäfers 2020: 31), nicht auf aktuellere Ausgaben, ohne einen weiteren Grund dafür anzugeben. In meiner Betrachtung gehe ich von der aktuellen Ausgabe (Doose 2020) aus.
[4] Hier habe ich mit der 4. Auflage (Doose 2004) verglichen, frühere Ausgaben sind nicht verfügbar.
[5] Ergänzend sind unterstützende Kartensets und Materialien Dritter verfügbar (Doose 2019: 178). Unter dem Titel „Käpt’n Life und seine Crew“ (Doose u. a. 2013) wurden Methoden der PZP in einfache Sprache übersetzt.
[6] In der Methodenauswahl sind Parallelen zur sozialen Diagnostik nach Pantuček (2019) zu erkennen. So finden sich dort analog zu Dooses „kleinen“ Methoden Genogramme (166), Problembeschreibungsraster (176ff.), Netzwerkkarten (188ff.) und biografischer Zeitbalken (223ff.). Dooses „großen“ Methoden entsprechend stellt Pantuček das Family Group Decision Making / Social Group Conference (294ff.).
[7] Eine Methodensammlung zur Persönlichen Lagebesprechung als Kopiervorlage bietet das „Arbeitsbuch Persönliche Lagebesprechung“ von Marshall u. a. (2019)
[8] Angemerkt sei, dass mit der BTHG-Umsetzung befürchtet wird, dass das sozialrechtliche Dreieck zugunsten des Leistungsträgers geschwächt wird (Boecker & Weber 2021: 13).
[9] Weiter blickend könnte hier auch der Ansatz therapeutischer Gemeinschaften (Wölfle 2015) hinzugezogen werden, oder auch das Gemeinschaftsmodell von Camphill-Gemeinschaften, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen leben, arbeiten und auf Augenhöhe entscheiden (Roerick 2021).
[10] Eine Einführung in den Sozialraumansatz geben Kessl & Reutlinger (2022). Doose (2020: 16ff.; 38) beschreibt die Bedeutung der Sozialraum-Orientierung für die PZP.
[11] Hier wären weitergehende Untersuchungen und Vergleiche von Interesse.
[12] Einerseits genießen Unterstützer*innenkreise im Interesse der Adressat*in eine größtmögliche Gestaltungs- und Planungsfreiheit, die „Regiemacht“ hat nicht der Leistungsträger oder der Leistungserbringer, sondern sie bleibt immer beim Unterstützer*innenkreis (Fietkau 2017: 140).Andererseits könnte hier auch eine neo-liberale Kritik ansetzen.
[13] Das Netzwerk Persönliche Zukunftsplanung e.V. bietet einige Trainingsangebote, die unter https: //www.persoenliche-zukunftsplanung.eu/weiterbildungen/weiterbildungen-allgemeines.html (Stand: 30.10.2023) einsehbar sind.
[14] Die Arbeit in einem solchen Pilotprojekt wird vermutlich zunächst in kleinsten Schritten vonstattengehen: Anhand „kleiner“ Methoden können Fachkräfte gemeinsam mit der Adressat*in den Rahmen für einen Unterstützer*innenkreis abstecken: Biografie-Arbeit (Doose 2020: 57ff.) kann zum Warm-up hilfreich sein, Methoden zum Lebensstil, zu Vorlieben und Routinen (54ff.) ermöglichen einen ersten, lösungsorientierten Schritt zur Alltagsbewältigung. Niedrigschwellige Gespräche zu Werten und Tugenden (59f.) können aktivierend und motivierend wirken, überhaupt sich auf einen längeren Prozess PZP einzulassen. Mittels Methoden zum sozialen Umfeld der Person (84ff: ) können erste Ansprechpersonen für einen Unterstützer*innenkreis eruiert werden und die vorsichtige Arbeit mit einem Mini-Unterstützer*innenkreis kann beginnen, mit viel Geduld und in kleinen Schritten ein Gefühl von Zusammenarbeit und Gemeinschaft zu entwickeln, um darauf aufbauend die Adressat*in zu unterstützen, sich als Expert*in in eigener Sache zu artikulieren und als Expert*in für Eigensinn ein mehr und mehr selbstbestimmtes Leben zu entwickeln, in dem Auseinandersetzungen und Gewalt nicht mehr notwendig sind, um Bedürfnisse erfüllt zu bekommen.
Literaturverzeichnis
Becker, Jo & Schlutz, Daniela 2019. Experten für Eigensinn. Berichte gelungener Zusammenarbeit bei herausforderndem Verhalten, erzählt von Klienten, Angehörigen und Fachkräften. Bonn: Psychiatrie Verlag.
Bendler, Sören & Heise, Sören 2018. Gewaltfreie Kommunikation in der Sozialen Arbeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Boban, Ines 2003. Aktiv zuhören, was Menschen möchten - Unterstützerkreise und Persönliche Zukunftsplanung (Archiv-Ausgabe des in der Zeitschrift „Orientierung - Fachzeitschrift für Teilhabe“ Heft 4/2003 erschienenen Artikels). Innsbruck: bidok – behinderung inklusion dokumentation. http: //bidok.uibk.ac.at/library/boban-orientierung.html [Stand 2023-10-03].
Boban, Ines 2007. Moderation Persönlicher Zukunftsplanung in einem Unterstützerkreis – „You have to dance with the group!“ (Archiv-Ausgabe des in der Zeitschrift „Inklusion online“ Heft 1/2007 erschienenen Artikels). Innsbruck: bidok – behinderung inklusion dokumentation. https: //bidok.library.uibk.ac.at/obvbidoa/content/titleinfo/8521348 [Stand 2023-10-02].
Bock, Thomas 2021. Psychose und Eigensinn. Noncompliance als Chance. Bonn: Psychiatrie-Verlag.
Boecker, Michael & Weber, Michael 2021. Wie lässt sich die Wirksamkeit von Eingliederungshilfe messen? München: Ernst Reinhardt Verlag.
Davies, William 2000. The RAID Manual. A relentlessly positive approach in working with extreme behaviour. 3. Auflage Leicester: APT Press.
Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) 2023. Systemfehler? Schwer zu erreichen ist nicht unerreichbar. Soziale Psychiatrie 2, 47, 4–36.
Deutscher Bundestag 2016. Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 05.09.2016.
Donati, Raphael & Pohl, Margot 2015. Persönliche Zukunftsplanung. Kraftvolle Veränderungen im Leben der Hauptperson und im Gemeinwesen. impulse. Magazin der Bundesarbeitsgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung 4, 27–32.
Doose, Stefan 2004. „I want my dream!“ Persönliche Zukunftsplanung. Neue Perspektiven und Methoden einer individuellen Hilfeplanung mit Menschen mit Behinderungen. 7. Auflage Kassel: Netzwerk People First.
Doose, Stefan 2019. Persönliche Zukunftsplanung. Ein gutes, passendes Leben in Verbundenheit gestalten. Teilhabe 58, 4, 176–180.
Doose, Stefan 2020. „I want my dream“ - Persönliche Zukunftsplanung. 11. Auflage Neu-Ulm: AG SPAK Bücher.
Doose, Stefan 2021. „I want my dream!“ Persönliche Zukunftsplanung weiter gedacht (Online-Ausgabe der 2020 in Buchform erschienenen 11. Auflage). Innsbruck: bidok – behinderung inklusion dokumentation. https: //bidok.library.uibk.ac.at/urn/urn: nbn: at: at-ubi: bidok: 3-2457 [Stand 2023-10-02].
Doose, Stefan, Emrich, Carolin & Göbel, Susanne 2013. Käpt’n Life und seine Crew: Ein Arbeitsbuch zur Persönlichen Zukunftsplanung. 2. Auflage Kassel: AG SPAK.
Fietkau, Sandra 2017. Unterstützer*innenkreise für Menschen mit Behinderung im internationalen Vergleich. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.
Giertz, Karsten, Große, Lisa & Gahleitner, Silke B. 2021. Hard to reach: Schwer erreichbare Klientel unterstützen. Köln: Psychiatrie Verlag.
Kessl, Fabian & Reutlinger, Christian (Hg.) 2022. Sozialraum. Eine elementare Einführung. Wiesbaden: Springer.
Landesbeauftragte für psychische Gesundheit 2010. Leitfaden zur Erstellung eines individuellen Behandlungs- und Rehabilitationsplans (BRP) und zur Zuordnung zu einer Gruppe mit vergleichbarem Hilfebedarf für Menschen mit einer seelischen Behinderun. 4. Auflage Berlin: Land Berlin / Landesbeauftragte für psychische Gesundheit. https: //www.berlin.de/lb/psychiatrie/_assets/veroeffentlichungen/standards-und-vertraege/100526_leitfaden_endfassg.pdf?ts=1649931258.
Marshall, Niki, Staniforth, Diane & Mathiesen, Ruth 2019. Arbeitsbuch Persönliche Lagebesprechung. Lübeck: Netzwerk Persönliche Zukunftsplanung. https: //www.persoenliche-zukunftsplanung.eu/fileadmin/Webdata/Methoden/arbeitsbuch-persoenliche-lagebesprechung.pdf [Stand 2023-10-03].
Pantucek, Peter 2019. Soziale Diagnostik. 4. Auflage Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Roerick, Joel 2021. Leben und Arbeiten in einer Camphill-Gemeinschaft (Hausarbeit). Berlin: Alice Salomon Hochschule. https: //1drv.ms/w/s!AhFUroBoPju0gZAhcfnLajP1NzjVRg?e=12vioU [Stand 2023-08-06].
Roerick, Joel 2023a. Inklusion zwischen Eigensinn und Integration. Impulse der BTHG-Umsetzung anhand eines Fallbeispiels (Hausarbeit). Berlin: Alice Salomon Hochschule. https: //1drv.ms/w/s!AhFUroBoPju0gZVOWe_hd0au-Dp60g?e=jbFAwQ [Stand 2023-10-30].
Roerick, Joel 2023b. Kontrolle als Auftrag? Theoretische Reflexion des Kontrollmandats im Betreuten Wohnen für Menschen mit chronischen psychischen Erkrankungen (Theorie-Arbeit). Berlin: Alice Salomon Hochschule. https: //1drv.ms/w/s!AhFUroBoPju0gZVRVgzy_gsC9AslKA?e=e8CIQW [Stand 2023-10-30].
Rosenberg, Marshall 2016. Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. 12. Auflage Paderborn: Junfermann.
Schäfers, Markus 2020. TiB Teilhabeinstrument Berlin. Teilhabeorientierte Individuelle Bedarfsermittlung. Manual. 2. Auflage Berlin: Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales. https: //www.berlin.de/sen/soziales/besondere-lebenssituationen/menschen-mit-behinderung/eingliederungshilfe-sgb-ix/bedarfsermittlung-tib/ [Stand 2023-10-02].
Wölfle, Roland 2015. „Wo Ich war, soll Gemeinschaft werden“ - Gruppenpsychotherapie und Therapeutische Gemeinschaften in der Individualpsychologie. Münster: Waxmann.