Grenzen
Wie können Fachkräfte professionelle Grenzen wahren und gleichzeitig den Bedürfnissen ihrer Klient*innen gerecht werden?
Fachkräfte stehen oft vor der Herausforderung, eine Balance zwischen professioneller Distanz und empathischer Nähe zu finden. Die Beziehung zwischen Sozialarbeiter*innen und ihren Klient*innen ist von Natur aus asymmetrisch und kann leicht zu Missverständnissen und Konflikten führen. Einerseits streben Fachkräfte danach, eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung aufzubauen, die es ihnen ermöglicht, effektiv Unterstützung zu leisten. Andererseits müssen sie klare professionelle Grenzen setzen, um ihre eigene psychische Gesundheit zu schützen und die Autonomie der Klient*innen zu fördern.
Diese Gratwanderung wird besonders deutlich, wenn Klient*innen mehr emotionale Nähe oder zeitliche Ressourcen einfordern, als die Fachkraft geben kann oder will. Solche Situationen sind keine Seltenheit und stellen einen integralen Bestandteil der täglichen Herausforderungen in der Sozialen Arbeit dar. Sie erfordern von den Fachkräften ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit, Kommunikationskompetenz und ethischem Bewusstsein, um professionell und menschlich zugleich zu handeln.
Fallbeispiel
Ein Fallbeispiel aus einer therapeutischen Wohngemeinschaft verdeutlicht diese Herausforderung. Dort entstand eine angespannte Situation zwischen der Klientin Frau M. und ihrer Bezugsbetreuerin Frau S. Frau M. forderte zunehmend mehr Aufmerksamkeit und Zeit von Frau S. ein. Die Betreuerin sah sich jedoch aufgrund ihrer professionellen Rolle und begrenzter Ressourcen nicht in der Lage, diesen erhöhten Anforderungen nachzukommen. Als Frau S. die Wünsche von Frau M. ablehnte, eskalierte die Situation. Frau M. reagierte mit Enttäuschung und Wut, was zu einer angespannten Atmosphäre in der Wohngemeinschaft führte.
Unterschiedliche Perspektiven
Sichtweise der Bezugsbetreuerin
Frau S. betrachtete die Situation als eine Krise der Klientin und nicht als einen persönlichen Konflikt. Aus ihrer professionellen Perspektive argumentierte sie:
Die Beziehung zwischen Betreuerin und Klientin ist eine professionelle mit festgelegten Rahmenbedingungen.
Es ist ihre Aufgabe, die Autonomie der Klientin zu fördern, nicht alle Bedürfnisse zu erfüllen.
Eine klare Abgrenzung ist notwendig, um eine effektive therapeutische Beziehung aufrechtzuerhalten.
Sichtweise der Klientin
Frau M. hingegen empfand die Situation als persönliche Zurückweisung und sah darin einen Konflikt. Ihre Perspektive basierte auf:
Dem Gefühl, dass ihre Bedürfnisse nicht ernst genommen wurden.
Der Wahrnehmung einer ungleichen Machtverteilung in der Beziehung.
Dem Wunsch nach einer engeren, persönlicheren Beziehung zur Betreuerin.
Analyse: Konflikt oder Krise?
Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass es sich in dieser Situation tatsächlich um einen Konflikt handelt, auch wenn die Betreuerin dies anders wahrnimmt. Ein Konflikt liegt vor, wenn unterschiedliche Interessen, Bedürfnisse oder Ziele aufeinandertreffen. In diesem Fall möchte die Klientin mehr Aufmerksamkeit, während die Betreuerin dies nicht geben möchte oder kann.
Eine Krise hingegen bezeichnet eine Zuspitzung oder einen Wendepunkt mit ungewissem Ausgang. Die beschriebene Situation erfüllt diese Kriterien nicht zwangsläufig.
Professionelle Rolle und Konfliktbeteiligung
Es ist wichtig zu verstehen, dass die Betreuerin als professionelle Fachkraft Teil der Konfliktsituation ist, auch wenn sie versucht, neutral zu bleiben. Ihre professionelle Rolle entbindet sie nicht automatisch davon, Konfliktpartei zu sein. Es wäre fairer und professioneller, die Situation als Konflikt anzuerkennen.
Empfehlungen für den Umgang mit der Situation
Um die Situation konstruktiv zu lösen, sollte die Betreuerin:
Die Situation als Konflikt anerkennen.
Ihre eigene Position und Möglichkeiten reflektieren.
Das Gespräch mit der Klientin suchen.
Gemeinsam Lösungsansätze erarbeiten.
Bei Bedarf Supervision oder kollegiale Beratung in Anspruch nehmen.
Diese Herangehensweise entspricht den Prinzipien professioneller Sozialer Arbeit und ermöglicht eine konstruktive Konfliktbearbeitung.
Fazit
Der Fall von Frau M. und Frau S. verdeutlicht die Komplexität der Beziehungen in der Sozialen Arbeit. Es ist wichtig, dass Fachkräfte ihre professionelle Rolle reflektieren und gleichzeitig die Bedürfnisse der Klienten ernst nehmen. Nur durch offene Kommunikation, Reflexion und die Bereitschaft, Konflikte anzuerkennen und zu bearbeiten, kann eine effektive und ethisch vertretbare Soziale Arbeit geleistet werden.